Liebe Leser,
am Sonntag Kantate dürfen wir unsere Köpfe ganz weit in den
Himmel stecken und mit den Erlösten am gläsernen Meer stehen und das
gute Ende schauen, dass Gott der Welt bereiten wird. Oh when the
Saints go marching in! Wir tun das, wie der Visionär der
Johannesapokalypse, mitten im Schlachtgetümmel, mitten im Krieg,
mitten in einer Welt, in der Terror, Krieg, Hass, Leid und Tod das
letzte Wort behalten wollen.
Wir tun das trotz all der erhobenen Zeigefinger, die uns Christen
ermahnen wollen, doch auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Wir
bestehen darauf, dass es zu unserm Glauben gehört, den Kopf auch in
den Himmel zu stecken und dass man eine Kirche vergessen kann, in
der man kein Plätzchen mit Aussicht auf das Himmelreich mehr
angeboten bekommt. Ja, wir wagen die These, dass nur eine Kirche,
die den Kopf ins Himmelreich steckt, der Erde wahrhaft treu bleiben
kann. Deshalb erklingt heute das Lied des Mose, in dem Gott dafür
gepriesen wird, dass er sein Volk durchs Schilfmeer in die Freiheit
führte und dessen Feinde im Wasser verschlang. Deshalb erklingt
heute das Lied des Lammes, in dem Gott dafür gepriesen wird, dass er
durch seinen Christus die Seinen durch das Meer des Todes in die
Freiheit der Kinder Gottes führte und deren großen Feind, den Tod,
für immer verschlang. Deshalb erklingen heute die Loblieder auf den
Gott, dem aller Anfang und alle Zukunft unserer Welt gehört und der
allein dafür sorgen kann und wird, dass alles ins Gute mündet.
Eine Kirche der solche Lieder ausgehen, kann sich nur trostlos den
sogenannten Realitäten unserer Welt stellen. Auf allen Synoden
erkennt man die Gefahr, dass sich die Kirche immer mehr einmauert in
ihre Probleme. Gegen diese Probleme versucht man dann irgendwas zu
tun oder kündigt auf sogenannten Zukunftskongressen an, dagegen
irgendwas zu tun. Bald stellt sich heraus, wie klein das Häufchen
wirklich ist, das man zustande gebracht hat und wie lächerlich es
war, das Ganze medienwirksam als Nachweis für die Wichtigkeit der
Kirche zu begackern. Über die Jahre verlässt so auch die stärksten
Kirchenaktivisten der Mut.
Dagegen hilft nur ganz schnell mit dem Propheten der Offenbarung den
Kopf in den Himmel zu stecken und zu schauen und festzuhalten, dass
Gott es ist, der seine Mission zu einem guten Ende führt. Denn die
Kirche hat keine eigene Mission, sondern sie nimmt teil an der
Mission Gottes, mit der er seine Welt und ihre Menschen zu sich nach
Hause bringen will. Darin liegt nach Meister Eckhart der ganze Grund
für das, was wir Schöpfung, Kosmos, Existenz nennen. Von daher
erschließt sich die Wirklichkeit. Und am gläsernen Meer der Ewigkeit
stehen keine Kirchenstrukturen, sondern Köpfe aus aller Herren
Länder und Zeiten der Welt, die standgehalten haben und den Blick
dafür nicht verloren haben.
In seinem wunderbaren Buch „Sehend werden – Wie die
Johannesoffenbarung die Wirklichkeit erschließt“ (Leipzig, 2013, S.
100ff.), schreibt Peter Hirschberg: „Trost oder Vertröstung? - diese
neuzeitliche Frage muss man wohl auch stellen, wenn man sich mit der
Vision vom geretteten Gottesvolk befasst. Dabei ist es nicht nur die
theoretische, die religionskritische Frage nach der Religion als
‚Opium für das Volk‘, die hier zur Debatte steht. Es ist auch die
ganz praktische Frage: Kann eine solche Vision so in unserem Leben
ankommen, dass sie uns innerlich tragen und uns neu Kraft geben
kann, und vielleicht nicht nur denen, die in Verfolgungssituationen
leben, sondern auch denjenigen, die ‚nur‘ ihren Alltag aus dem
Glauben heraus bewältigen wollen?
Zuerst einmal: Ich finde es interessant, auf welche Weise Johannes
hier Trost zu spenden versucht. Er fordert uns auf, einen radikalen
Perspektivenwechsel zu vollziehen. Wir sollen unseren Blick von der
Gegenwart abwenden und uns in eine ‚Welt‘ hineinversetzen, wo Gott
endgültig sein Reich errichtet haben wird. Manche würden sagen: Wir
sollen in eine Art virtuelle Realität eintauchen, so intensiv und
konzentriert wie ein begeisterter Herr-der-Ringe-Leser, der auf
einmal das Gefühl hat, dass er sich in Mittelerde befindet.
Freilich: Für Johannes handelt es sich dabei nicht um eine innere
Flucht vor der Wirklichkeit, um das Eintauchen in eine Märchen- oder
Phantasiewelt, sondern um ein Sich-Vertraut-Machen mit der
eigentlichen, der göttlichen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die
im Augenblick zwar noch verborgen ist, die aber dereinst als die
wahrhaftige und alles bestimmende in Erscheinung treten wird.
Zugespitzt formuliert: Eigentlich ist unsere Welt die virtuelle
Welt, und der Blick in die wirkliche Welt soll uns realistisch
machen, damit wir in dieser Welt der Lüge und Täuschung ein in
Wahrheit alternatives, sprich ein göttliches Leben führen können.
Aber aufgepasst: Johannes meint das nicht platonisch. Er ist nicht
der Meinung, dass unsere Wirklichkeit nur Schein und Illusion ist.
Wir leben in Gottes Schöpfung, und diese ist so real wie nur etwas
real sein kann. Aber: Diese Schöpfung ist beherrscht von dunklen und
zerstörerischen Mächten, die in uns die Illusion erzeugen, dass die
Gestalt der Wirklichkeit, mit der wir täglich konfrontiert sind, die
eigentliche ist. Erst wenn diese Mächte vernichtet sein werden, wird
diese Illusion endgültig überwunden sein und wir werden erkennen,
dass die Schöpfung nur dann zu sich selbst kommt, wenn sie von ihrem
Schöpfer erleuchtet und durchdrungen ist. Also: Nicht die Schöpfung
ist Illusion. Illusion ist das geistig-geistliche Vorzeichen, unter
dem die meisten Menschen diese Schöpfung wahrnehmen, ein Vorzeichen,
das den wahren Gott ausgeblendet hat. (…)
Johannes wirbt für seine alternative Sicht der Dinge, und er tut
dies, indem er uns eine riesige Schar von Menschen vor Augen malt,
aus allen Völkern, Nationen und Sprachen. (…) Es ist nur eine
einzige Frage, die Johannes damit an uns stellt, und diese Frage
heißt: Wohin gehörst du? Aus welcher Perspektive lebst du dein
Leben, empfängst du deine Maßstäbe? Hast du dich dieser Welt
verschrieben? Dann wundere dich nicht, wenn dein Leben dereinst
gewogen und für zu leicht befunden wird. Überlege gut, was
Ewigkeitswert hat, was letztlich zählt. Die Anerkennung der
Menschen, ihre ganzen Auszeichnungen und Würden, die Macht, die sie
anhäufen, Ruhm und Ehre, all das ist Tand und wird einmal vergehen.
Es ist leer, ihm fehlt die Substanz. (…) Bleibe der Wahrheit treu.
Bleibe Gott und seinem Messias treu.“ Zitat Ende.
Die Lieder am gläsernen Meer der Ewigkeit bringen also Aufklärung
über das wahre Wesen der Wirklichkeit. „Das Lied des Lammes schickt
die Glaubenden nicht an die Front, es ruft auf die Seite des
Siegers.“ (Ernst Koch, GPM, 2002/1, Heft 2, S. 232) Mit diesem Lied
soll schon gar nicht am Sonntag Kantate dünn angesungen werden gegen
die böse Welt. Wenn die Gemeinde beim Abendmahl die Herzen in die
Höhe erhebt und das Heilig, heilig, heilig, brausen lässt, dann darf
sich jedes Herz aufrichten zum Herrn des Kosmos, der das A und O
ist. Dann darf sich jedes Herz aufrichten, egal wie gebeugt und
bedrückt es sein mag von der Bosheit, Bequemlichkeit,
Gleichgültigkeit, Angst und Feigheit dieser Welt. Kirchenmusik hat
deshalb nicht nur Anteil an der Verkündigung. Sie hat Anteil am
prophetischen Reden der Gemeinde. Sie darf und soll uns erheben ans
Ufer des gläsernen Meers.
„Ein Liedermacher um seine Motivation befragt, antwortet: „Warum
sangen die drei Jünglinge im Feuerofen? Half das Singen? Warum
sangen die Neger im Land der Unterdrückung? Half das was? Warum sang
Miriam das Schilfmeerlied? Warum sang Maria ihr Trutzlied, das
Magnifikat? Warum sang David vor Saul? Da ist ausdrücklich gesagt:
Um die bösen Geister zu vertreiben! ... Warum schreibe ich
geistliche Lieder? Weil auch ich die Zeit ansingend, die Zeit
hoffend voraussingend, Raum gewinnen will, (…) zu leben. Weil ich an
der Wirklichkeit der Welt - und auch der Kirche - zugrunde ginge,
erstickte, hätte ich nicht (…) die Flucht nach vorn ins Lied (...).
Singend auf glühenden Kohlen.“ (Martin Rößler, GPM, 1990/2, Heft 3,
S. 264)
Und der, dem schon kein Ton mehr von den Lippen kommt, hat
vielleicht das Glück des Schriftstellers Botho Strauß, der schreibt:
„Ich danke dem Mädchen, dass sich herausstellte und das uns allen
Angemessene tat: zierlich den Kopf in die Höhe hob, um aus der
nebligen Luft der Mitternacht Atem zu holen für den Gesang.“ (Botho
Strauß, Paare, Passanten, dtv 1750, S. 204)
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche
Hof) (weitere Predigten von
Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de)
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Text:
2 Und ich sah, und es war wie ein gläsernes
Meer, mit Feuer vermengt; und die den Sieg behalten hatten über das
Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an
dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen
3 und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied
des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger
Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker.
4 Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht
preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen
und anbeten vor dir, denn deine gerechten Gerichte sind offenbar
geworden. |