Liebe Leser, wie
alle Jahre sind wir am letzten Abend eines Jahres besonders
gestimmt. Wir spüren die Vergänglichkeit. Schon wieder ein Jahr
vorbei. Gott sei Dank, sagt der eine oder die andere, und denkt an
ein Meer der Tränen, des Leids und des Schmerzes. An ein Meer der
Traurigkeit, das uns verschlingen kann und vielleicht fast
verschlungen hat. An den Lebensdurst, in dem wir ertrinken können.
An das Hoffen und Harren, das zum Narren hält. An die Menschen- und
Gottverlassenheit so manchen Lebens. Und denkt an ein neues Jahr,
eine neue Zeit, in der hoffentlich alles besser wird.
Aber wie realistisch ist diese Hoffnung, dass alles besser wird in
unserem eigenen Leben und erst recht im globalen Maßstab? Was können
wir uns noch Großes vom Menschen erhoffen? Die Jugend bis 60 Dank
Gentechnik und medizinischer Fortschritte? 120 Jahre alt können in
Zukunft die werden, die es sich leisten können. Ewiges Leben für die
Maden im Speck. Und woanders auf der Welt, in den Armutsvierteln der
Riesenmetropolen, wird früher und schlechter gestorben als im
Mittelalter. Krebszellen, so habe ich gelesen, leben theoretisch
ewig. Wir träumen davon, zu sein wie sie. Es sind Träume von
Geschöpfen, die sich an nichts anderem mehr festhalten können, als
an sich selbst. Und denen doch im Laufe der Jahre immer mehr
dämmert, wie vergeblich und trostlos das ist.
Vielleicht hören wir deshalb ja besonders aufmerksam zu, wenn die
Jahreslosung ein großes Versprechen macht: Ich will dem Durstigen
geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Und denken: Wo
gibt’s das? Das will ich auch! So ein Wasser, das wirklich jeden
Durst stillt. So ein Wasser, mit dem es keine Durststrecken mehr im
Leben gilt. Und schon sind wir wieder ganz bei uns selbst und wollen
unsere Bedürfnisse gestillt und befriedigt haben. Und schon sind wir
wieder in einer Kirche, die sich für die Bedürfnisse der Menschen
für zuständig hält und so etwas im Angebot hat. Mit praktischen
Übungen versteht sich.
Leider bringt uns beides nicht wirklich weiter. Es tut deshalb alle
Jahre gut, wenn wir einen Schritt zurücktreten und die Jahreslosung
dort aufsuchen, wo sie steht. Was ist das für eine Geschichte, die
da erzählt wird? Was ist der Zusammenhang? Ausgerechnet die
Offenbarung des Johannes! Kein Buch haben die Christen im Lauf ihrer
Geschichte mit so spitzen Fingern angefasst. Über keinem anderen
Buch hat die Auslegungsgeschichte so bunte Blüten getrieben, mit
denen die Nachwelt meist nichts mehr zu tun haben wollte. Geht es
doch in diesem Buch um das Ende der alten Welt, um den Kampf der
guten Mächte gegen die bösen. Geht es doch in dem Buch um die
Endzeit, die Apokalyptik, die seit jeher im Verdacht stand, dass sie
zu nichts Gutem taugt. Sie sei Opium für Menschen, die sich aus
dieser Welt fortträumen und die Hände in den Schoß legen. Im besten
Fall. Im schlimmsten eine Handlungsanweisung für Fundamentalisten
und Terroristen, die sich für Gotteskrieger halten und das Ende
dieser Welt im Namen Gottes ein bisschen schneller herbeibomben
wollen. Die Menschheit hat heute die Mittel dazu.
Der evangelische Theologe Peter Hirschberg hat vor vier Jahren ein
Buch geschrieben und ihm den Titel gegeben: „Sehend werden – Wie die
Johannesoffenbarung die Wirklichkeit erschließt“. (Leipzig, 2013) Er
schreibt: „Der Autor der Offenbarung betreibt, um es einmal so zu
sagen, biblische Aufklärung. Er lässt ein erhellendes Licht auf
unsere menschliche Wirklichkeit fallen, damit wir tiefer erkennen,
worin das Ziel aller Geschichte besteht: das Ziel unserer ganz
persönlichen Lebensgeschichte, das Ziel der Weltgeschichte, ja, das
Ziel der kosmischen Geschichte überhaupt. Johannes will in uns eine
Hoffnung erwecken, die uns im Leben und im Tod tragen kann, und die
uns zu mutigen Zeugen Jesu und zu wachen politischen Zeitgenossen
macht.“ (S.6) Hirschberg leitet dazu an, die Offenbarung des
Johannes, ja die ganze Bibel und von ihrem Blickwinkel her die
Weltgeschichte als Heilungsgeschichte zu lesen. Wenige Verse nach
der Jahreslosung sind wir am Ende der christlichen Bibel angelangt,
die einmal mit der Geschichte der Schöpfung der Welt begann.
Wie heilt Gott die Welt? „Das Ziel der Schöpfung besteht in der
‚Einwohnung‘ Gottes. (…) Der Begriff der Einwohnung Gottes ist dem
Begriff und noch mehr der Sache nach ein Thema, das die ganze Bibel
durchzieht. Bereits im Alten Testament ist davon die Rede, dass Gott
die Gemeinschaft mit den Menschen sucht. (…) Es ist spannend, wenn
im Neuen Testament mit einer ganz ähnlichen Begrifflichkeit das
Geheimnis Jesu beschrieben wird. (…) Die Einwohnung Gottes in Jesus
Christus zielt letztlich darauf, dass Gott durch ihn seiner ganzen
Schöpfung einwohnt. Mit ihm ist ein Anfang gesetzt, aber das Ende
ist erst dort erreicht, wo auch noch das letzte Staubkörnlein so von
Gott durchdrungen ist, dass es die Liebe und Herrlichkeit seines
Schöpfers widerspiegelt.
Die Vision von der Vollendung der Schöpfung durch die göttliche
Einwohnung ist in zweifacher Hinsicht höchst aktuell:
Wer so denkt und glaubt wie Johannes, der kann sich nie mit dem
Gedanken eines Jenseits zufrieden geben, das mit unserer Welt nichts
mehr zu tun hat, dem muss der Gedanke, dass Gott diese Welt
vernichten wird, um an deren Stelle eine neue Welt zu errichten,
absurd erscheinen. Nein, diese Welt ist nicht dazu bestimmt,
vernichtet zu werden. Sie ist Gottes Schöpfung, dazu bestimmt, dass
Gott ihr einwohnt, und zwar so radikal, dass dadurch etwas völlig
Neues entsteht, eben: eine erlöste Schöpfung. (…) Auf den Punkt
gebracht heißt das: Gott erlöst uns nicht von der Schöpfung, nicht
von der Leiblichkeit, nicht von der Natürlichkeit, nicht von der
Leidenschaft, nicht von der Materie, aber er erlöst all dies so,
dass es seine negative ‚Schwerkraft‘ (Simone Weil) verliert und nun
den göttlichen Geist der Liebe, der Freude und der Freiheit atmet.
(…)
Ein zweiter Grund für die Aktualität dieses Denkens: (…) Viele
Menschen heute suchen Gott. Sie sind spirituell offen. Dennoch
können und wollen sie Gott nicht länger in einem hermetisch von der
Welt abgeriegelten Raum suchen. Sie sehnen sich nach einer
Gotteserfahrung mitten im Alltag, nach einer Gotteserfahrung, die
das Göttliche und das Weltliche miteinander verbindet und dadurch
Relevanz für das Leben gewinnt. Ich vermute, dass sie damit ganz
nahe bei Johannes sind. Denn wenn Johannes als letztes Ziel vor
Augen hat, dass Gott die ganze Wirklichkeit durchdringt, dann kann
Christsein im Hier und Jetzt nichts anderes bedeuten als dies schon
jetzt zeichenhaft vorwegzunehmen. (…) Insgesamt ist es ein fast
magischer Akt, zu dem Johannes uns anleiten will. Wir sollen die
Welt mit göttlichen Augen neu entdecken, sie anders ansehen, damit
sie auch uns anders ansieht, damit sie uns ihr wahres Gesicht zeigt.
Die von Johannes intendierte Spiritualität will in allem Gott
entdecken und Gott in alles hineintragen. Sie ist ein lebendiger
Protest gegen jede religiöse Schizophrenie, die sich mit der
Aufteilung der Welt in einen sakralen und profanen Teil begnügt.“
(S. 208ff)
„Gott in alles hineintragen“, das könnte ein Weg zu der Quelle des
lebendigen Wassers sein. Denn das hat nicht die Kirche im Angebot,
sondern allein Gott und sein Christus. Die lassen uns heute am Ende
eines Jahres hineinschauen in die ganze Geschichte der Welt und
schicken den Gequälten und Verfolgten der Gemeinde des Johannes
damals und uns heute ein Bild vom Ziel dieser Geschichte. Es ist ein
Bild, auf dem man auch uns lachen sieht, weil wir und diese Welt am
Ende doch noch heil geworden sind. Gott sei Dank. Und da wollen wir
uns die genaue Beschreibung dieses lebendigen Wassers im
allerletzten Kapitel der Bibel wirklich nicht ersparen:
„Und er zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie
Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes, mitten
auf ihrer Straße und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens,
die tragen zwölfmal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht,
und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker. Und es wird
nichts Verfluchtes mehr sein. Und der Thron Gottes und des Lammes
wird in der Stadt sein, und seine Knechte werden ihm dienen und sein
Angesicht sehen, und sein Name wird an ihren Stirnen sein. Und es
wird keine Nacht mehr sein, und sie bedürfen nicht des Lichts einer
Lampe und nicht des Lichts der Sonne; denn Gott der Herr wird über
ihnen leuchten … (Off. 22,1-5)
… und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre
eure Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
... zur Predigtseite der Hospitalkirche
Die Predigt zum Hören
Text:
1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine
neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen,
und das Meer ist nicht mehr.
2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus
dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für
ihren Mann.
3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach:
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen
wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit
ihnen, wird ihr Gott sein;
4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod
wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr
sein; denn das Erste ist vergangen.
5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und
er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!
6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O,
der Anfang und das Ende. Ich will dem
Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.*
7 Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott
sein und er wird mein Sohn sein.
* Jahreslosung 2018 |