Liebe Leser,
„Da war doch der Herr Godard, der
Vorstandschef eines Chemiekonzerns, der eines Tages einfach ausstieg
und sich einen Weinberg in der Provence kaufte. Kaum
nachvollziehbar, wie einer alles aufgibt, was er sich mühsam
erkämpft hat: die Position in der Firma, den Dienstwagen, die Jacht
an der Adria, die jährlichen Boni, die Entscheidungsvollmacht, die
Macht. Oder doch? Wofür das alles, fragt er sich. Was nützt das
Geld, wenn man keine Zeit mehr hat, es auszugeben? Was nützt die
schönste Urlaubsreise, wenn man sich beziehungsmäßig schon lang
nichts mehr zu sagen hat? Das kann nicht alles sein. Wo sind die
Kindheitsträume geblieben? Jetzt gilt's, entschlossen das Ruder
herumzureißen!“ (Martin Hoffmann, GPM, 2/2010, Heft 3, S. 336) „Wie
war denn ihr Leben als Vorstandschef, Herr Godard?“, fragt der
Journalist. Darauf Godard: „Ich sage es mal mit dem Wort des
Apostels Paulus aus Philipper 3, Vers 8: Scheiße!“
Du liebe Zeit, denken wir jetzt vielleicht. So ein Wort darf man
doch in der Kirche nicht sagen! Ja, vielleicht liegt es in der
Kirche gerade auch daran, dass zwar immer wieder beteuert wird, dass
man die Dinge beim Namen nennt. Aber dann ist halt doch alles
irgendwie christlich und biblisch, was in der Kirche so getrieben
wird, solange die, die es tun, ein Kreuz um den Hals haben. Genau,
hätten diejenigen, denen Paulus da so wacker übers Maul fährt,
gesagt. Wir wollen schon Christen sein, aber ein bisschen jüdische
Speisegebote einhalten und die Säuglinge beschneiden lassen, das
schadet doch keinem und außerdem ist es ja biblisch. Und ganz im
Sinne der notwendigen Ökumene in einer heidnischen Welt. Deine
Äußerungen, lieber Paulus, wirken auf uns leider polemisch,
übertrieben und nicht würdigend, wertschätzend oder
konstruktiv-kritisch. Wir halten eine andere Form des Miteinanders
für angemessen. Deshalb bitten wir dich, wieder nach anderen Formen
des Gesprächs im Interesse einer guten Zusammenarbeit mit allen
anderen Mitgliedern zu suchen.
Paulus denkt nicht daran. Er riskiert sogar, als Antisemit, als
Judenhasser dazustehen. Dabei geht es ihm darum nun wirklich nicht.
Dass das Gottesvolk, aus dem Paulus selbst stammt, den Messias nicht
erkennt, war der Schmerz des Paulus bis an sein Lebensende. Aber
hier in Philippi ist der Mischmasch im Anzug. Die junge christliche
Gemeinde, der die Purpurhändlerin Lydia, der Gefängnisaufseher des
Gefängnisses, in dem Paulus einsaß, eine vom Wahrsagegeist befreite
Wahrsagerin, und viele andere aus allen Schichten und Ständen
angehörten, und die in ihrer Umgebung eine christliche
Kontrastgesellschaft bildete, drohte in die Anpassung
zurückzufallen. Da kann Paulus nicht zusehen, auch nicht um des
lieben Friedens willen.
Und deshalb erinnert er seine Glaubensgeschwister leidenschaftlich
daran, dass sie eine Kontrastgesellschaft sind und bleiben sollen.
Nicht in dem Sinn, dass sie sich für etwas Besseres halten sollen.
Nicht in dem Sinn, dass sie sich in eine religiöse Sonderwelt
zurückziehen sollen. Nein, sie sollen nicht aufhören, eine
Christusgemeinschaft zu sein, eine Gesellschaft Jesu, die Herde der
Schafe, die ihres guten Hirten Stimme hören, solche, die wie Paulus
von Christus ergriffen sind. In der christlichen Gemeinde ist der,
der geglaubt wird, nicht nur Objekt des Glaubens, er ist Subjekt.
Der Christus ist der, der durch die christliche Gemeinde in der Welt
reden und handeln will. Schon der Jüngerschar schärft Jesus ein,
dass es unter ihnen deshalb anders zugehen soll, als in der Welt
üblich (Markus 10,35ff.). Und in diesem Sinne waren die ersten
christlichen Gemeinden, wie in Philippi Kontrastgesellschaft, in der
Machtstrukturen, Herkunft, Hautfarbe, soziale Schicht und
gesellschaftlicher Stand keine Rolle mehr spielten. Menschen kamen
zusammen, die sich vorher auf der Straße nicht einmal gegrüßt
hätten.
Und es wird sofort klar, warum Paulus von all dem, was ihm in seinem
früheren Leben Ansehen, Macht und Stellung brachte, nun als Christ
absolut nichts mehr hält. Es ist wertlos geworden und Abfall gegen
den Schatz des Evangeliums von Jesus Christus. Deshalb schickt
Paulus seine Mitgeschwister hinaus zum vernünftigen Gottesdienst im
Alltag der Welt mit den Worten: Stellt euch nicht dieser Welt
gleich. (Römer 12,2) Werdet und bleibt Kontrastgesellschaft.
Wir können leicht raten, was Paulus deshalb heute von diesem „Wir-auch-Protestantismus“
gehalten hätte, der jeder Mode mit fünfjähriger Verspätung
hinterherrennt auf der Suche nach gesellschaftlicher Relevanz und
Modernität. Und er würde andererseits unter Kontrastgesellschaft
etwas anderes verstehen, als eine Kirche, in der es noch
hierarchischer, autoritärer, undurchsichtiger, ungerechter und
willkürlicher zugeht, als in der sie heute umgebenden Gesellschaft.
Welches Wort hätte er wohl gewählt, wenn er heute von Richtungs- und
Personalgemeinden, zu deutsch: christlichen Neigungsgruppen und
geistlichen Fanclubs gehört hätte, die allen Ernstes um ihre
Anerkennung als Kirchengemeinden kämpfen? Mit der vielbeschworenen
Zielgruppenorientierung breitet sich eine neue Milieuverengung aus,
die die ersten christlichen Gemeinden damals so eindrucksvoll
durchbrochen haben. „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ ist und
bleibt ein untaugliches und falsches Motto für eine christliche
Gemeinde. Was hätte Paulus wohl davon gehalten, wenn Pfarrer heute
mehr Animateure und Filialleiter als Prediger, Seelsorger und
Sakramentsverwalter sind? Und Dekane und Bischöfe mehr Politiker,
Manager und Medienstars sind, anstatt geistliche Lehrer und Hirten?
Gut würde Paulus finden, wenn wir einmal in der Zeitung stünden mit
der Meldung, dass uns Christenmenschen angesichts von
Wirtschaftskrisen, demographischem Wandel, finanziellen Engpässen,
Terror und anderen Katastrophen nicht bange wird und wir deshalb
auch keine neuen und innovativen Strukturen, Methoden und Konzepte
brauchen, solange nur Christus gepredigt wird auf jede Weise. Und
das würde auch dann noch gelten, wenn Hof 150 Einwohner hätte, von
denen noch 20 evangelisch sind.
So hat es Paulus gehalten, der in unserem Predigttext so
leidenschaftlich und im Ton nach heutigem Empfinden daneben für die
Konzentration seiner Mitgeschwister auf das Evangelium von Gottes
Liebe und Gnade in Jesus Christus streitet. Gott sei Dank hat er
sich durchgesetzt, während das Judenchristentum, das von allem etwas
mitnehmen wollte, bald im Nebel der Geschichte verschwand. Das
könnte uns auch blühen.
Das könnte uns auch blühen, wenn wir vergessen, dass unsere Kirche,
unsere Gemeinde nur einen Sinn hat: Dass wir eine
Christusgemeinschaft sind, die sich um Christus und sein Wort und
Sakrament versammelt, um ihm nachzudenken, nachzujagen, nachzuleben
– bis er uns alles geworden ist und alles andere nichts. Bis wir
auch im Kopf und im Herzen ganz eingemeindet sind in seine
Geschichte vom Geborenwerden und Sterben und Auferstehen. Bis wir
zuhause angekommen sind bei ihm im Himmelreich.
Das ist unser Weg. Und davon müsste doch schon das ein oder andere
in unserem Leben und Zusammenleben als Christenmenschen erzählen
können. Z.B. durch das, was wir für wichtig und für nicht wichtig
halten. Bestimmt gleicht der Weinberg in der Provence eher dem
Himmelreich als die Vorstandsetage eines Chemieriesen. Und deshalb
sollte auch eine christliche Gemeinde eher dem Weinberg in der
Provence als einer Vorstandsetage gleichen. Das wäre doch wirklich
eine schöne Kontrastgesellschaft. Eia, wär’n wir da!
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um
Christi willen für Schaden erachtet. 8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der
überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um
seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte
es für Dreck, damit ich Christus gewinne 9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine
Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den
Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott
dem Glauben zugerechnet wird. 10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die
Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet
werden, 11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten. 12 Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei;
ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von
Christus Jesus ergriffen bin. 13 Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass
ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten
ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, 14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der
himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. |