Liebe Leser,
wenn man eine Lehre wie die, von der Paulus uns heute predigt,
nicht mehr versteht, muss man sie erzählen. Z. B.. mit dem
französischen Erzähler Marc Arland, der vom „kostbarsten Moment im
Leben eines Pfarrerssöhnchens“ schreibt:
‚Das Pfarrerssöhnchen heißt Paul. Paul ist das Produkt eines kurzen
Abenteuers seiner Mutter Lise mit einem Priesterseminaristen. Als
August, der Ehemann, heimkehrt aus der Kriegsgefangenschaft, findet
er seine Frau mit dem Pfarrerssöhnchen. Dessen leiblicher Vater ist
kurz vor Kriegsende noch gefallen. Wie sollte Paul „sie nicht hören,
diese Beschimpfungen, diese Beleidigungen, diesen Lärm von einem
Teller oder einem Stuhl. „Du hast nichts anbrennen lassen, du
Schlampe, und ich saß in Deutschland im Lager und wäre beinahe
krepiert! Wie hat er es denn gemacht, dein Pfarrer, sag schon?“ -
„Lass mich, August, lass mich. Ich habe dir doch alles gesagt!“
„Dann sag es noch mal. Außerdem ist es nicht wahr, dass du mir alles
gesagt hast. Hat er seine Soutane anbehalten, dein Pfarrer? Los,
antworte schon, oder ich schlag zu.“ Und manchmal schlug der Vater
wirklich zu; dann hörte man einen Schrei oder ein Stöhnen. In
manchen Nächten war es aber auch so still, dass sich Paul zitternd
fragte, ob sie wohl gestorben seien, und beim ersten Wort, bei der
ersten Klage vor Glück lachte. Weil es zwar wieder ein Auftritt war,
ein Auftritt unter so vielen bei Nacht und bei Tag, aber Gott sei
Dank nicht der Auftritt.“
An Sonntagabenden lässt August, der Vater, sich von seiner Frau
krönen zum König der betrogenen Ehemänner. Er trägt einen
Weißblechstreifen, an dem zwei Kuhhörner befestigt sind. Aber es
konnte noch schlimmer kommen ... Paul musste aufstehen, nähertreten
- noch einen Schritt - und den hasserfüllten Blick spüren, die
Stimme hören, die mal leise, mal wütend laut immer wiederholte:
Pfarrerssöhnchen! Quälend lange geht diese Geschichte.
Aber eines Abends, als August auf dem Thron sitzend, die Krone auf
dem Kopf, seinen Sohn herbeizitiert hatte, an einem Abend im März,
da - was ist in ihn gefahren? Hat er zu viel getrunken oder zu
wenig? Da steht er auf, reißt die Krone herunter und schleudert sie
in den Schrank; da bleibt er unter dem verstörten Blick der Mutter
vor Paul stehen und sagt, indem er das Kind bei der Hand fasst:
„Komm. Komm mit. Komm nach draußen.“
Die zwei Hände des Mannes liegen auf den schmalen Schultern, aber
sie drücken nicht. Und der Blick, den Paul auf sich ruhen fühlte,
schien nicht einmal fragend zu sein. Lange dauerte das; man hörte
einen Nachtvogel rufen und dann vom Dorf her einen anderen
antworten.
„Kleiner Pfarrer“, murmelte der Vater schließlich. Und diesmal -
nein, man konnte nicht sagen, dass die geringste Gehässigkeit in der
Stimme des Mannes lag. Alles: Scham, Reue, Verwirrung, auch eine
unbestimmte Klage. Aber keine Gehässigkeit. Wie soll man noch daran
zweifeln, wenn der Vater einen auf die Knie hinaufzieht, eine Hand
nach dem Kopf des Kindes ausstreckt, die er gleich wieder wegnimmt,
als gäbe es auf der ganzen Welt nichts, was wertvoller wäre, und
dann plötzlich inbrünstig flüstert, indem er Paul an sich drückt:
„Mein kleiner Pfarrer!“
Zuerst hat Paul vielleicht geglaubt, dass diese Bewegungen und diese
Worte nur eine wunderliche Wendung der Trunkenheit seien. Aber der
Vater ist kein Betrunkener an diesem Abend. Er ist, das spürt man
genau, ein Mann vor einem Kind; ein Mann, der ein Vater sein möchte.
… Ein Mann und ein Kind, die nicht glücklich sind und es gern sein
möchten.
Das alles war schön, so schön, dass Paul noch viel später als Mann
an diesen Augenblick dachte - vielleicht nicht als an den schönsten
Augenblick seines Lebens, aber gewiss als an den kostbarsten.‘
(nach: Dr. Rainer Oechslen, GPM 1/1998, Heft 2, S. 173f.)
Was für eine Geschichte: Schuld, Schmerz, die Hölle auf Erden,
quälend lang und dann die Wendung, Versöhnung, Vergebung. Sie siegt
schließlich doch, die Liebe. Der kostbarste Moment. Wenn wir diese
Geschichte hören, dann haben wir den Geschmack der Zutaten auf der
Zunge, die auch in der Geschichte vorkommen, auf die sich der
Apostel Paulus bezieht.
Die Leidensgeschichte des Christus hat diese Zutaten. Paulus stellt
sie uns als Liebesgeschichte vor. Als Liebesgeschichte zwischen Gott
und uns. Als Liebesgeschichte, in der Gott sich unbedingt mit seiner
Liebe durchsetzen will und dabei bis zur Selbstverleugnung geht. In
der er seine Existenz nicht nur aufs Spiel setzt, sondern sein Leben
drangibt. Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus
für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.
Ach, auch vom Letzteren verstehen wir nichts mehr. Wir sündigen
allenfalls noch beim Essen und gegen die Straßenverkehrsordnung. Wir
sündigen nur noch gegen die Regeln, die wir uns selbst geben. Über
den „Triumph der Sünde“ muss sich die Kirche erst wieder von einem
Spiegeljournalisten aufklären lassen. „Auf Teufel komm raus“ heißt
der Artikel von Matthias Matussek, in dem er beschreibt, wie
Hochmut, Habgier und Geiz, Genusssucht, Rachsucht, Maßlosigkeit,
Neid und Trägheit des Herzens nicht nur die guten Verhältnisse im
Privaten, sondern auch innerhalb unserer Gesellschaft und der
Weltgemeinschaft zerstören. All das ist salonfähig geworden und
solange das so ist, müssten wir „mit der Hölle vorlieb nehmen, die
wir uns selber bereiten.“ (Der Spiegel, Nr. 7/2010, S.60 ff.)
Die Theologen dürfen noch ein wenig tiefer schürfen. Meister Eckhart
beschreibt die Seele, die aufhört nach Gott zu fragen und zu streben
und schreibt: „So verfällt sie dem Hochmut. Das aber ist Sünde. Sie
kann nicht ertragen, dass irgend etwas über ihr sei. Ich glaube, sie
kann sogar nicht ertragen, dass Gott über ihr sei. … So (aber) kann
sie nimmer zur Ruhe kommen.“ (Quint, S. 297)
Die Leidensgeschichte des Christus erzählt davon, dass Gott sich
nicht mit der Hölle abfindet, die wir uns selber bereiten und in
deren Gottesferne unsere Seele niemals zur Ruhe kommt. Seine Liebe
treibt ihn genau dort hinein, um bei uns zu sein und aus der Hölle
den Himmel zu machen. Der Todesschrei des Christus (Mt. 27/50) ist
daher vielleicht nicht der schönste, aber der kostbarste Augenblick
in der Geschichte Gottes mit uns. Und der Vorhang im Tempel, der die
Welt und das Allerheiligste trennen, reißt mittendurch und durch die
Erde geht ein Ruck. Von nun an liegt sie in Gottes Armen.
Und wir mit ihr! Luther beschreibt es so: „Die Liebe Gottes findet,
was seiner Liebe wert ist, nicht vor, sondern erschafft es. Die
Liebe des Menschen entsteht von dem her, was ihm liebenswert ist ...
Wenn Gottes Liebe am Menschen lebendig wirksam wird, so liebt sie
Sünder, Böse, Törichte, Schwache, um sie zu Gerechten, Guten,
Weisen, Starken zu machen ... Denn die Sünder sind deshalb schön,
weil sie geliebt werden, sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie
schön sind.“ (Heidelberger Disputation, These XXVIII, WA 1, S. 365).
Und deshalb ist es mehr als unverständlich, wenn eine Kirche, der
ein solch kostbares Evangelium anvertraut ist, im Konfliktfall mehr
um ihre eigene Autorität und Glaubwürdigkeit als von allen
anerkannte moralische Instanz, mehr um ihren Ruf als
Gemeinplatzbewacherin und Volkspädagogin fürchtet, statt ihre
Botschaft auf den Schild zu heben und sich auf die Seite derer zu
schlagen, denen die Liebe Gottes gilt. Die Törichten und Schwachen
gehören dazu.
Kann schon sein, dass eine Kirche, die zu ihrer Botschaft, zur
Autorität ihres Christus, statt zu ihrer eigenen steht, sich dem
Spott und Hohn einer Gesellschaft aussetzt, die über ihre eigenen
Sünden lacht und sie bei anderen genüsslich an den Pranger stellt.
In solcher Bedrängnis könnte sie mitlachen. Nicht weil sie ihre
eigenen Sünden nicht ernst nimmt, sondern weil sie ihr Kostbarstes
vor Augen hat und anderen vor Augen hält. Den Gott, der uns nicht
zuschanden werden lässt.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
1 Da wir nun gerecht
geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch
unsern Herrn Jesus Christus;
2 durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in
der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen
Herrlichkeit, die Gott geben wird.
3 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der
Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt,
4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung,
5 Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes
ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns
gegeben ist.
6 Denn Christus ist schon zu der Zeit, als wir noch schwach waren,
für uns Gottlose gestorben.
7 Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten
willen wagt er vielleicht sein Leben.
8 Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns
gestorben ist, als wir noch Sünder waren.
9 Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem
Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind!
10 Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines
Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig
werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.
11 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch
unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung
empfangen haben.
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