Predigt     Römer 5/1-11     Reminiscere     28.02.10

"Der kostbarste Augenblick"
(von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

wenn man eine Lehre wie die, von der Paulus uns heute predigt, nicht mehr versteht, muss man sie erzählen. Z. B.. mit dem französischen Erzähler Marc Arland, der vom „kostbarsten Moment im Leben eines Pfarrerssöhnchens“ schreibt:

‚Das Pfarrerssöhnchen heißt Paul. Paul ist das Produkt eines kurzen Abenteuers seiner Mutter Lise mit einem Priesterseminaristen. Als August, der Ehemann, heimkehrt aus der Kriegsgefangenschaft, findet er seine Frau mit dem Pfarrerssöhnchen. Dessen leiblicher Vater ist kurz vor Kriegsende noch gefallen. Wie sollte Paul „sie nicht hören, diese Beschimpfungen, diese Beleidigungen, diesen Lärm von einem Teller oder einem Stuhl. „Du hast nichts anbrennen lassen, du Schlampe, und ich saß in Deutschland im Lager und wäre beinahe krepiert! Wie hat er es denn gemacht, dein Pfarrer, sag schon?“ - „Lass mich, August, lass mich. Ich habe dir doch alles gesagt!“

„Dann sag es noch mal. Außerdem ist es nicht wahr, dass du mir alles gesagt hast. Hat er seine Soutane anbehalten, dein Pfarrer? Los, antworte schon, oder ich schlag zu.“ Und manchmal schlug der Vater wirklich zu; dann hörte man einen Schrei oder ein Stöhnen. In manchen Nächten war es aber auch so still, dass sich Paul zitternd fragte, ob sie wohl gestorben seien, und beim ersten Wort, bei der ersten Klage vor Glück lachte. Weil es zwar wieder ein Auftritt war, ein Auftritt unter so vielen bei Nacht und bei Tag, aber Gott sei Dank nicht der Auftritt.“

An Sonntagabenden lässt August, der Vater, sich von seiner Frau krönen zum König der betrogenen Ehemänner. Er trägt einen Weißblechstreifen, an dem zwei Kuhhörner befestigt sind. Aber es konnte noch schlimmer kommen ... Paul musste aufstehen, nähertreten - noch einen Schritt - und den hasserfüllten Blick spüren, die Stimme hören, die mal leise, mal wütend laut immer wiederholte: Pfarrerssöhnchen! Quälend lange geht diese Geschichte.

Aber eines Abends, als August auf dem Thron sitzend, die Krone auf dem Kopf, seinen Sohn herbeizitiert hatte, an einem Abend im März, da - was ist in ihn gefahren? Hat er zu viel getrunken oder zu wenig? Da steht er auf, reißt die Krone herunter und schleudert sie in den Schrank; da bleibt er unter dem verstörten Blick der Mutter vor Paul stehen und sagt, indem er das Kind bei der Hand fasst: „Komm. Komm mit. Komm nach draußen.“

Die zwei Hände des Mannes liegen auf den schmalen Schultern, aber sie drücken nicht. Und der Blick, den Paul auf sich ruhen fühlte, schien nicht einmal fragend zu sein. Lange dauerte das; man hörte einen Nachtvogel rufen und dann vom Dorf her einen anderen antworten.

„Kleiner Pfarrer“, murmelte der Vater schließlich. Und diesmal - nein, man konnte nicht sagen, dass die geringste Gehässigkeit in der Stimme des Mannes lag. Alles: Scham, Reue, Verwirrung, auch eine unbestimmte Klage. Aber keine Gehässigkeit. Wie soll man noch daran zweifeln, wenn der Vater einen auf die Knie hinaufzieht, eine Hand nach dem Kopf des Kindes ausstreckt, die er gleich wieder wegnimmt, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts, was wertvoller wäre, und dann plötzlich inbrünstig flüstert, indem er Paul an sich drückt: „Mein kleiner Pfarrer!“

Zuerst hat Paul vielleicht geglaubt, dass diese Bewegungen und diese Worte nur eine wunderliche Wendung der Trunkenheit seien. Aber der Vater ist kein Betrunkener an diesem Abend. Er ist, das spürt man genau, ein Mann vor einem Kind; ein Mann, der ein Vater sein möchte. … Ein Mann und ein Kind, die nicht glücklich sind und es gern sein möchten.

Das alles war schön, so schön, dass Paul noch viel später als Mann an diesen Augenblick dachte - vielleicht nicht als an den schönsten Augenblick seines Lebens, aber gewiss als an den kostbarsten.‘ (nach: Dr. Rainer Oechslen, GPM 1/1998, Heft 2, S. 173f.)

Was für eine Geschichte: Schuld, Schmerz, die Hölle auf Erden, quälend lang und dann die Wendung, Versöhnung, Vergebung. Sie siegt schließlich doch, die Liebe. Der kostbarste Moment. Wenn wir diese Geschichte hören, dann haben wir den Geschmack der Zutaten auf der Zunge, die auch in der Geschichte vorkommen, auf die sich der Apostel Paulus bezieht.

Die Leidensgeschichte des Christus hat diese Zutaten. Paulus stellt sie uns als Liebesgeschichte vor. Als Liebesgeschichte zwischen Gott und uns. Als Liebesgeschichte, in der Gott sich unbedingt mit seiner Liebe durchsetzen will und dabei bis zur Selbstverleugnung geht. In der er seine Existenz nicht nur aufs Spiel setzt, sondern sein Leben drangibt. Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.

Ach, auch vom Letzteren verstehen wir nichts mehr. Wir sündigen allenfalls noch beim Essen und gegen die Straßenverkehrsordnung. Wir sündigen nur noch gegen die Regeln, die wir uns selbst geben. Über den „Triumph der Sünde“ muss sich die Kirche erst wieder von einem Spiegeljournalisten aufklären lassen. „Auf Teufel komm raus“ heißt der Artikel von Matthias Matussek, in dem er beschreibt, wie Hochmut, Habgier und Geiz, Genusssucht, Rachsucht, Maßlosigkeit, Neid und Trägheit des Herzens nicht nur die guten Verhältnisse im Privaten, sondern auch innerhalb unserer Gesellschaft und der Weltgemeinschaft zerstören. All das ist salonfähig geworden und solange das so ist, müssten wir „mit der Hölle vorlieb nehmen, die wir uns selber bereiten.“ (Der Spiegel, Nr. 7/2010, S.60 ff.)

Die Theologen dürfen noch ein wenig tiefer schürfen. Meister Eckhart beschreibt die Seele, die aufhört nach Gott zu fragen und zu streben und schreibt: „So verfällt sie dem Hochmut. Das aber ist Sünde. Sie kann nicht ertragen, dass irgend etwas über ihr sei. Ich glaube, sie kann sogar nicht ertragen, dass Gott über ihr sei. … So (aber) kann sie nimmer zur Ruhe kommen.“ (Quint, S. 297)

Die Leidensgeschichte des Christus erzählt davon, dass Gott sich nicht mit der Hölle abfindet, die wir uns selber bereiten und in deren Gottesferne unsere Seele niemals zur Ruhe kommt. Seine Liebe treibt ihn genau dort hinein, um bei uns zu sein und aus der Hölle den Himmel zu machen. Der Todesschrei des Christus (Mt. 27/50) ist daher vielleicht nicht der schönste, aber der kostbarste Augenblick in der Geschichte Gottes mit uns. Und der Vorhang im Tempel, der die Welt und das Allerheiligste trennen, reißt mittendurch und durch die Erde geht ein Ruck. Von nun an liegt sie in Gottes Armen.

Und wir mit ihr! Luther beschreibt es so: „Die Liebe Gottes findet, was seiner Liebe wert ist, nicht vor, sondern erschafft es. Die Liebe des Menschen entsteht von dem her, was ihm liebenswert ist ... Wenn Gottes Liebe am Menschen lebendig wirksam wird, so liebt sie Sünder, Böse, Törichte, Schwache, um sie zu Gerechten, Guten, Weisen, Starken zu machen ... Denn die Sünder sind deshalb schön, weil sie geliebt werden, sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie schön sind.“ (Heidelberger Disputation, These XXVIII, WA 1, S. 365).

Und deshalb ist es mehr als unverständlich, wenn eine Kirche, der ein solch kostbares Evangelium anvertraut ist, im Konfliktfall mehr um ihre eigene Autorität und Glaubwürdigkeit als von allen anerkannte moralische Instanz, mehr um ihren Ruf als Gemeinplatzbewacherin und Volkspädagogin fürchtet, statt ihre Botschaft auf den Schild zu heben und sich auf die Seite derer zu schlagen, denen die Liebe Gottes gilt. Die Törichten und Schwachen gehören dazu.

Kann schon sein, dass eine Kirche, die zu ihrer Botschaft, zur Autorität ihres Christus, statt zu ihrer eigenen steht, sich dem Spott und Hohn einer Gesellschaft aussetzt, die über ihre eigenen Sünden lacht und sie bei anderen genüsslich an den Pranger stellt. In solcher Bedrängnis könnte sie mitlachen. Nicht weil sie ihre eigenen Sünden nicht ernst nimmt, sondern weil sie ihr Kostbarstes vor Augen hat und anderen vor Augen hält. Den Gott, der uns nicht zuschanden werden lässt.

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text:

Paulus schreibt:

1 Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus;
2 durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.
3 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt,
4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung,
5 Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.
6 Denn Christus ist schon zu der Zeit, als wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben.
7 Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben.
8 Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.
9 Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind!
10 Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.
11 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.
 


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