Liebe Leser,
jeder hat so dann und wann Albträume. Man wälzt sich im Bett herum,
gefangen in einer Traumwelt, in der man sich mit ausweglosen
Situationen herumschlägt. Man sieht die drohende Gefahr auf sich
zukommen, aber die Beine sind aus Blei. Wir stehen am Abgrund, der
mit gewaltigem Sog nach uns greift und wir fallen und schreien. Und
in dem Moment, wo das Schreckliche uns unausweichlich treffen wird,
fahren wir hoch, wachen wir auf. Manchmal dauert es einen Moment,
bis wir uns in unserer Welt wieder orientiert haben und dann seufzen
wir erleichtert: Gott sei Dank, es war nur ein Traum.
Ein solcher Seufzer der Erleichterung steht auch am Ende der
Gedanken des Paulus: Gott sei Dank, durch Jesus Christus unsern
Herrn! Wie einer, der aus einem Albtraum erwacht, und sich
erleichtert orientiert, befreit sich Paulus von böser Erinnerung.
Freilich ist das, was Paulus beschreibt, nicht einfach nur ein böser
Traum. Paulus schaut zurück auf böse Vergangenheit, die nicht nur
seine eigene, sondern im Grunde die aller Menschen ist. Dieser Blick
zurück ist - Gott sei Dank - nur dem Geretteten möglich und ohne den
Seufzer der Erleichterung nicht erschwinglich. So wie auch uns
manchmal das ganze Ausmaß der Gefahr, in der wir uns befanden, erst
bewusst wird, wenn wir wieder sicheren Boden unter den Füßen haben.
Jörg Zink, der heute 90jährige, hat als junger Mann einen solchen
Albtraum erlebt und seine Geschichte weitererzählt. („Du bist
getauft“, Burckhardthaus-Verlag, 1977) Im Zweiten Weltkrieg war er
als Flieger unterwegs vor der Küste Frankreichs über dem Golf von
Biskaya. Andere in meinem Alter starben in den Schützengräben und
ich durfte fliegen, schreibt er später in seinen Erinnerungen, als
fände er das ungerecht. Aber lebensgefährlich war das auch. Einmal
wurden sie über dem Meer abgeschossen. Schreiend stürzten die drei
Mann Besatzung mit ihrer Maschine ins Meer, bis das Flugzeug tief
unten in der Dunkelheit auseinanderbrach und sie hinausgeschwemmt
wurden, jedenfalls zwei ihnen. Der Pilot überlebte schon den
Aufschlag nicht. Und dann trieben sie im eisigen Wasser – es war
Anfang April - und hatten so gut wie keine Überlebenschance. Nur 6
Stunden kann ein Mensch bei solchen Temperaturen im Wasser
überleben. Wasserflugzeuge konnten nicht landen, weil die See zu
unruhig war und schnelle Schiffe brauchten einen halben Tag, um bis
zu ihnen zu kommen. Aber es war schon Nachmittag und den anderen Tag
würden sie nicht mehr erleben. Das war die Lage. Wie viele der 6
Stunden waren schon vergangen, als plötzlich – wie durch ein Wunder
– ein Schiff aus dem Nebel auftauchte, sie ausmachte und beidrehte?
Sie wussten es nicht. Rettungsringe flogen über die Reling. Aber die
Beiden waren schon so kalt und lahm, dass sie keinen Finger mehr
rühren konnten. Das Schiff fuhr noch näher an sie heran und dann
nahm die Besatzung lange Stangen, an denen die beiden wie nasse
Säcke hingen. So holte man sie heraus.
Jörg Zink hat diese Geschichte erzählt, um zu erklären, was es mit
der Taufe auf sich hat. Die Taufe ist für ihn das Zeichen einer
Rettung, zu der wir nichts, aber auch gar nichts, beitragen können.
Gott rettet uns, indem wir auf den Tod und das Leben des Christus
getauft werden. Er selbst ist es, der in Christus den Abgrund
zwischen sich und uns, den Abgrund zwischen Gottheit und Menschheit,
den Abgrund zwischen Leben und Tod überbrückt. Wir kommen eben mit
all unseren Fähigkeiten und Anstrengungen nicht hinüber. Wir finden
Gott nicht. Er findet uns. „Wenn es auf unsere Kräfte angekommen
wäre“, schreibt Zink, „wir wären verlorene Leute gewesen.“ (aaO,
S.21)
Das ist eine schöne Zusammenfassung für das, was Paulus im Rückblick
auf seine menschliche Existenz vor Gott, ja auf die Existenz der
Menschheit vor Gott, sieht. Wie der Mensch verzweifelt versucht,
sich selbst zu retten und zu Gott zu finden und doch in
aussichtsloser und tödlicher Weise immer wieder nur bei sich selbst
landet. Wenn ihn der Christus nicht wie einen nassen Sack aus den
tödlichen Fluten zieht und ihn auf die rettende Seite Gottes bringt,
dann wäre er, Paulus, dann wären alle Menschen, verlorene Leute.
Gott sei Dank durch Jesus Christus, unsern Herrn!
Es hat ja zu allen Zeiten religiös und philosophisch gebildete
Menschen gegeben, die heute wieder sehr modern sind, weil sie die
Selbstoptimierung und Selbstverbesserung des Menschen predigen. Der
Mensch müsse sich halt ein wenig anstrengen um seine fleischlichen,
will heißen: niederen, Begierden besser in den Griff zu kriegen. Er
müsse seine höheren geistigen, seelischen und spirituellen Fähigkeit
entwickeln und könne dann sogar bis zur Erkenntnis Gottes
vordringen. Dazu könne man sich den Jesus der Bibel, aber auch
andere große Gestalten der Geistesgeschichte zum Vorbild nehmen. Das
ist, mokiert sich Jörg Zink in seiner Geschichte, als würde man den
Leuten in der Biskaya sagen: Wer tüchtig genug schwimmt, wer die
Rettungsboote und Rettungsringe selbst findet und dann die lange
Strickleiter am Rumpf des Schiffes selbst hinaufklettert, der kann
gerettet werden. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun und mit
der Wirklichkeit des Menschen vor Gott auch nicht. Da lacht Jörg
Zink, da lacht Paulus und wir lachen mit.
Das Lachen hat aber noch kein Ende. Denn die spirituelle
Leistungsgesellschaft gibt es ja nicht nur außerhalb, sondern auch
innerhalb der Kirche. Für die persönlichen und privaten kleinen
Schwächen und Fehler, nimmt man die Gnade Gottes gerne in Anspruch,
ist aber doch froh, wenn‘s keiner merkt. Aber die Leistungen, die
man für die Kirche und ihre Diakonie erbringt, die sollen dann schon
die eigene Karriere beflügeln und mit Namen in der Zeitung stehen.
Die sollen dann schon nicht irgendwem, sondern mir zugerechnet
werden. Und deshalb gibt es ja auch in der Kirche Geistliche, die
tragen ein breites Kreuz auf der Brust oder nur ein kleines oder
eben gar keins. Mit den Gewändern ist es dasselbe.
Kürzlich habe ich in einem Zeitungsbeitrag geschrieben: Gott kann
nur um seiner selbst willen gesucht, gefunden und geliebt werden.
Gerade unsere besten Wünsche und Absichten stehen uns und ihm dabei
am allermeisten im Weg. Darauf schrieb jemand bei Facebook, das
halte er doch für eine allzu gewagte These. Als wäre die Kirche eine
Art Besserungsanstalt, in der Kleriker die Schwachen milde tadeln
und auf den rechten Weg führen und das Gute im Menschen stärken und
zur Entfaltung bringen. Da wird die Kirche offenbar mit der Schule
verwechselt und wir müssen uns fragen, warum es zu solchen
Verwechslungen kommt und was wir dazu beitragen.
Die Kirche hat das Heil, die Rettung des Menschen durch Gott, den
Weg Gottes zu den Menschen zu predigen. Sie hat den Menschen vor
Gott zu bedenken. Was den Menschen von Gott trennt, sind nicht nur
seine fleischlichen Schwächen. Auch seine guten Zeugnisse nützen ihm
gar nichts. Ja, gerade sie sind dem verlorenen Menschen immer wieder
Anlass, sich doch lieber auf sich selbst zu verlassen, statt auf
Gott. Auch Paulus weiß das nur zu gut. Er, der einmal ein
angesehener Pharisäer und anerkannter Schriftgelehrter mit
ausgezeichneten Zeugnissen und Verdiensten war. Beschnitten und
untadelig nach dem Gesetz. Längst hat er all das in eine Kiste
gepackt und – wie wir im Philipperbrief Kapitel 3, Vers 8 erfahren –
das Wort „Scheiße“ draufgeschrieben. Da lacht Paulus und wir lachen
hoffentlich mit.
Es ist ja ein Lachen der Erleichterung nach dem Erwachen aus einem
Albtraum. Manchmal haben Albträume die Funktion uns an Wichtiges zu
erinnern. Der Schalksknecht im Gleichnis, das Jesus im Evangelium
des heutigen Sonntags erzählt, hat seinen Albtraum offensichtlich zu
schnell vergessen: Die riesige Schuld, die ihn, seine Familie, die
alle Zukunft erdrückte, bis der König sie umsonst von seinen
Schultern nahm. Wie ist es anders zu erklären, dass der so Befreite
so bald einen anderen wegen einer lächerlichen Schuld ins Gefängnis
werfen lässt? Aber vielleicht ist das nur ein weiterer Albtraum im
Albtraum, aus dem er ganz schnell erwachen sollte, mit Paulus, mit
uns. Zum Glück nur ein ganz und gar unmöglicher Traum: Gott sei Dank
durch Jesus Christus unseren Herrn.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
14 Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin
fleischlich, unter die Sünde verkauft.
15 Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich
will; sondern was ich hasse, das tue ich.
16 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, dass
das Gesetz gut ist.
17 So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.
18 Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts
Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann
ich nicht.
19 Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse,
das ich nicht will, das tue ich.
20 Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es,
sondern die Sünde, die in mir wohnt.
21 So finde ich nun das Gesetz, dass mir, der ich das Gute tun will,
das Böse anhängt.
22 Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen.
23 Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das
widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im
Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.
24 Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem
todverfallenen Leibe?
25 Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!
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