Liebe Leser,
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in einem Interview über die
Jammerwut der wohlstandsverwöhnten Deutschen gesagt: „Lasst uns die
Mechanismen untersuchen, derentwegen eine der materiell und mental
reichsten Nationen aller Zeiten einer ständigen verdrießlichen
Selbstagitation zum Opfer fällt. Nutzen wir die Verwöhnpause, die
mit der aktuellen Rezession kommt, für eine Untersuchung über
Bewusstseinsverzerrungen in der entlasteten Gesellschaft.“ (Der
Spiegel, Heft 35/2004, S. 122)
Für solche Sätze hat der wackere Philosoph ordentlich Prügel
bezogen. Ja, sieht er denn nicht, wie schlecht es uns allen geht?
Wie zerrüttet unser Verhältnis zu Vater Staat und seiner
öffentlichen Hand ist? Ja sieht er denn nicht, was für ein
schlechter Vater dieser Staat geworden ist? Hartz 4 und die ständig
wachsende Kluft zwischen arm und reich! Die Kinder wollen mit diesem
Vater Staat und seinen Vertretern nichts mehr zu tun haben.
Keine Frage: Väter darf man kritisieren. Es ist ihre verdammte
Pflicht und Schuldigkeit sich um ihre Kinder zu kümmern. Um die
Starken und um die Schwachen. Wir halten zurecht nichts von Vätern,
die ihren Kindern oft nicht nur die Zuwendung, sondern auch den
Unterhalt schuldig bleiben. Rabenväter eben. Wehe den Kindern, die
in einer vaterlosen Gesellschaft groß werden müssen. Wie sollen sie
lernen selbst einmal gute Väter zu werden? Und so steht in der Bibel
neben dem Gebot der Liebe zu Vater und Mutter die Ermahnung: Ihr
Väter, reizt euere Kinder nicht zum Zorn. (Eph 6/4)
Wir alle wissen, dass es bei Eltern und Kindern sehr wohl zu
Bewusstseinsverzerrungen kommen kann. Wenn demnächst die Schule
wieder beginnt, sitzt in mancher Schulbank der ersten Klasse bereits
eine kleine Ich-AG. Und hinter dieser Ich-AG stehen Elternteile, die
von der Schule eine ganz schlechte Meinung haben und wild
entschlossen sind, die Freiheit ihres Zöglings zu verteidigen. Zu
deren Bedrohung gehören auch die verzweifelten Versuche der
Lehrerin, der kleinen Ich-AG einmal ihre Grenzen aufzuzeigen und die
einfachsten Regeln des Zusammenlebens zu vermitteln. Zum Beispiel,
dass die Würde und Unverletzlichkeit der eigenen Person auch die der
Banknachbarin einschließt. Diese scheinbaren
Selbstverständlichkeiten, sind leider nicht angeboren, sondern
Ergebnisse einer guten Erziehung. Pädagogen sprechen mit Bestürzung
von der Tatsache, dass ein nicht geringer Teil der Kinder eine
solche Erziehung nicht mehr mitbringt und deshalb gar nicht
bildungsfähig ist. Erziehungsurlaub meint Urlaub für und nicht von
der Erziehung. So muss Schule heute nicht weniger, sondern mehr
Erziehung und Herzensbildung betreiben, nicht nur bei den Kindern,
sondern auch bei den Eltern. Und jede Lehrkraft weiß, dass sie den
Kindern Eltern nicht ersetzen kann.
"Denn es ist eine ernste, große Sache, da Christo und aller Welt
viel an liegt, dass wir dem jungen Volk helfen und raten. Damit ist
denn auch uns allen geholfen und geraten.“ So Martin Luther, an die
Ratsherren aller Stände deutschen Landes. Was für ein Vater Staat,
der alle Jahre darüber nachdenkt, Unterricht, bei dem die
Herzensbildung im Mittelpunkt steht, wie den Religionsunterricht, zu
kürzen und der Bildung mehr und mehr kurzfristigen und kurzsichtigen
wirtschaftlichen Interessen ausliefert. Was für ein böses Erwachen
wird es in einer Gesellschaft geben, der funktionales Wissen über
alles geht, und die gleichzeitig Herzensbildung für ein Hobby von
Kirchen hält. Die weltanschauliche Neutralität des Staates bewährt
sich vor allem in der Einsicht, dass das Gemeinwesen von
Voraussetzungen lebt, für die es selbst nicht garantieren kann, ohne
die es aber nicht lebensfähig ist. Die Herzensbildung gehört dazu.
Denn wer bildet das Herz? Der Staat ist es nicht. Der andere Mensch
ist es nicht. Die eigene Vernunft und das eigene Wissen ist es
nicht. Das Herz bildet sich durch Rückbindung und Vertrauen auf eine
unbedingte Instanz. Moral ist ohne Transzendenz nicht haltbar. Das
Herz verantwortet sich einem Höheren und seinem Wort gegenüber. Was
passiert, wenn der Staat selbst diese höhere Instanz sein will,
haben wir Deutschen gleich zweimal erlebt: Im Dritten Reich und im
SED-Staat. Beide Male bezahlten die Menschen auch mit dem Verlust
ihrer Freiheit. Vater Staat wurde zum Hirne und Herzen
beherrschenden Despoten. Er konnte sich halten, solange er seine
geknechteten Untertanen mit Wohlstand aller Art bezahlen konnte. Und
da muss die Frage erlaubt sein, wie viele von uns bereits 65 Jahre
nach dem Krieg und 20 Jahre nach der Wende sich daran nicht mehr
erinnern und bereit sind, für wirtschaftliche Vorteile solchen die
Stimme zu geben, die mit der Freiheit nichts am Hut haben. Und dazu
gehören auch die, die immer wieder die Abschaffung des
Religionsunterrichts und einen allgemeinen Ethikunterricht für alle
fordern, der allgemeine Kenntnisse über alle Religionen vermitteln
soll. Die gerade Regierenden legen dann fest, welche Werte sie aus
den Religionen abschöpfen und der nachwachsenden Generation
vermitteln und sie werden es in ihrem eigenen Interesse tun. Und
dann kann alles wieder von vorn beginnen.
Die hymnische Rede des Paulus vom himmlischen Vater, durch den wir
uns als Kinder Gottes wieder finden und verstehen dürfen, hat
deshalb zu allen Zeiten einen kritischen Akzent gegen alles, was
sich auf dieser Welt als Übervater geriert. Wundert es da, dass der
Faschismus und der Sozialismus die Menschen aus den Kirchen trieben?
Partei- und Kirchenmitgliedschaft wurden zurecht als unerträgliche
Konkurrenz empfunden. Wer Gott mehr gehorcht, als den Menschen, ist
für solche Regime ein unzuverlässiger Kantonist. Die brauchen
Menschen, die Angst haben und keine, die sich in der vorletzten und
letzten Not ihrem himmlischen Vater anvertrauen. Die brauchen
Handlanger und Knechte und keine freien Christenmenschen.
Freie Christenmenschen, die das kindliche Vertrauen in den
himmlischen Vater nicht verlieren. Botho Strauß dazu: „Vielleicht
wird hin und wieder ein Erwachsener durch das Weltalte des Glaubens
gläubig gestimmt. Nicht der Sinn fürs Immerwährende, für
Transzendenz ist ursprünglich in ihm angelegt. Das Zeitlose denkt
sich der Erwachsene, das Kind aber glaubt an die uralte Geschichte.
Das Beste am Glauben wird daher stets der Kinderglaube bleiben.
Latenzgeschichte der Frömmigkeit. Nicht Buchstabe, sondern impact
(mächtiger Einfluss). Nicht Auslegung, sondern Wunder und Schauder.
Umgekehrt spielen die raffinierten Auslegungen, die das
Unwahrscheinliche respektieren und es mit Gelehrsamkeit unentwegt
einspeicheln, um es Erwachsenen verdaulich zu machen, oftmals nur
mit sich selbst - angesichts des Mysteriums bewegt sich der
Kundigste, ohne es zu merken, hilflos wie ein Kind.“ (ders. „Der
Untenstehende auf Zehenspitzen“, Hanser, 2004, S. 36)
Sehen wir’s ein, geistvoll wie ein Kind. Abba, lieber Vater – das
ist das wahre Paradies und Vaterland!
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text: Paulus schreibt:
14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die
sind Gottes Kinder.
15 Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr
euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen
Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes
Kinder sind.
17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes
Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir
auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.
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