Predigt    Römer 8/18-25    Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres    14.11.04

"Visionäre Erinnerung"
(von Vikar Michael Krauß, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

bei Taufen sagt die Pfarrerin oder Pfarrer oft: "Liebe Eltern ...., durch euere Liebe soll euer Kind das erste Zutrauen zur Liebe Gottes gewinnen....". Ich finde das einen sehr schönen Satz, weil er sagt: Manchmal spüren wir durch Menschen, die wir lieben (nicht nur durch Eltern), dass wir nicht allein sind, dass das Leben uns etwas zu geben hat. Wir fühlen uns aufgehoben in etwas Größerem, Guten. Eben wie ein Säugling empfinden mag, wenn er zufrieden in den Armen seiner Eltern liegt. Gottes Nähe wird greifbar. Der Himmel öffnet sich ganz unspektakulär.

Meine Eltern erzählen, dass sie mich als Kind oft mit dem Kinderwagen unter einen Baum gestellt haben. Ich sei dort stundenlang fasziniert von den Blättern gewesen, die über den Himmel tanzen. Das geht mir noch heute so. Mir hilft es, mich an solche Momente zu erinnern, wenn es mir schlecht geht. Ich erlebe sie als Geschenke Gottes und fühle mich mit Gott und dem Leben verbunden. Gottes Versprechen, bei uns zu sein bis ans Ende der Welt und darüber hinaus ist für mich dann so eine Art Licht am Ende des Tunnels. Zwar weit weg am Horizont, aber einen Vorgeschmack bekomme ich durch solche Momente, wie ich sie eben geschildert habe.

Die Erinnerungen werden dadurch zugleich eine Hoffnung für die Zukunft. Sie sagen mir, dass das Leben nicht nur aus dem besteht, was mir gerade das Leben schwer macht, sondern dass ich in etwas Größerem, Guten aufgehoben bin. Ich nenne es Gott. Das Gefühl, das ich dann empfinde ist zugleich eine Art Rückschau wie eine Vision für die Zukunft. Eine solche visionäre Erinnerung ist auch der Beginn der Bibel, der zurückblickt ins Paradies am Beginn der Schöpfung und damit zugleich vorausblickt auf das vollkommene Reich Gottes am Ende aller Tage.

Erinnern wir uns also: Adam und Eva, zwei Kinder, leben in einem Garten, der ihnen alles bietet. Es gibt keine Einsamkeit, keine Not, kein Leid. Vielleicht ein paar Tränen, die herrlich wohlig von den Eltern getrocknet werden. Gott spaziert mit den Kindern durch den Garten und zeigt ihnen die Welt. Gleich nach der Beschreibung des Paradieses kommt die große Enttäuschung. Nach einigen Jahren, vielleicht schon mit 11, 12, oder 13 oder 14 beginnt plötzlich alles zu kippen. Die beiden Jugendlichen fühlen sich nackt und einsam, der Welt ausgeliefert, von Gott und den Eltern allein gelassen. Vertrieben aus dem Paradies sind sie hineingeworfen in die Probleme der Sexualität, der Arbeitswelt, der Selbstverantwortung, in die Zwänge des Alltags, der Vergänglichkeit und die Gefahren, sein Leben zu verpfuschen. Von nun an hat das Leid und die Frage nach dem „Warum“ einen festen Platz im Leben jedes Menschen.

Unzählige Male haben Adam und Eva diese Frage gestellt: An Kranken- und Sterbebetten. Sie haben sie mit Eding auf Lederjacken und Rucksäcke geschrieben und auf Kapuzenpullis gedruckt: Sick of it all, krank von dem Ganzen. Ihre Enttäuschung in der Liebe, im Beruf, im eigenen Körper im Erwachsenwerden und Sterben, versucht sich Luft zu machen. Vielleicht ist die Frage nach dem Leid die Mutter der Theologie: Warum Leid, warum ich, warum überhaupt?

Die Seiten der Bibel sind vom ersten Blatt an wie ein Mantel, in den sich hineinhüllen kann, wer Verständnis sucht in seinem Leid. Sie sind innen und außen beschrieben mit Klage und Zorn. Sie fühlen sich feucht an von Tränen, die zwischen den Zeilen hervorsickern. Hinten quer über den Rücken dieses Mantels ist mit fettem Eding geschrieben: „Gott, du bist ein Verbrecher!“, nachzulesen bei Hiob. Und vorne auf die Brust gedruckt ein Herz, in dem ein Messer steckt. Darunter die Schrift: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist keine Frage, die sich nur Pubertierende stellen und auf ihre Lederjacken schreiben. In der Jugend stellt sie sich nur meist zum ersten Mal mit voller Wucht. Umso schlimmer, weil man noch keine Erfahrung damit gesammelt hat. Später kann sie sogar eine Hilfe zum Leben sein. Vorbei geht sie an Niemandem: Wer sie nicht auf seine Lederjacke gemalt hat, dem steht sie irgendwo im Herzen.

Von Jesus wird erzählt, dass er kurz bevor er am Kreuz starb, geschrieen hat: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?". Es war scheinbar so schlimm, dass er nicht mehr glauben konnte, dass er in Gott aufgehoben ist. Vielleicht ist das der wahre Grund, warum ich Theologie studiert habe: Dass erzählt wird, Jesus sei an Ostern von den Toten auferstanden. Ein an Gott verzweifelter Mensch wird auferweckt, als Zeichen dafür, dass wir selbst in den dunkelsten Momenten unseres Lebens immer in Gott aufgehoben sind. Sogar wenn wir es selbst nicht mehr glauben können. Sogar im Tod und darüber hinaus.

 „Denn ich bin überzeugt“, schreibt Paulus im Brief an die Römer, „ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden ... (Text siehe rechts)

Ja, beweisen lässt sich da nichts. Wir hoffen auf etwas, das man nicht sieht, weil es in der Zukunft liegt. Es steht noch aus. Ähnlich vielleicht wie ein neues Deutschland. Das alte Deutschland scheint in einer Flut der Depression zu versinken. Vielleicht weil es wie die Kirche manchmal auch, den Mut verloren hat, Visionen zu denken, ohne sie vorher bis ins Detail auf ihre Machbarkeit durchzurechnen. Man streicht lieber die Vision vom Horizont, weil man ja weiß, dass der Horizont immer weiter nach hinten ruckt, wenn man auf ihn zugeht. Dass es aber dunkel wird, wenn man die Sonne vom Horizont streicht, weil man sie eh nie erreicht, .... tja, das ist wirklich deprimierend: Neues Land leider nicht in Sicht – zu dunkel, Sie verstehen?

Fast trotzig klingt dagegen der erste eben gehörte Vers, der dem Predigttext wie eine Zusammenfassung voransteht. So formuliert einer, der den Silberstreif am Horizont schon sieht. Einer, der sich sicher ist, dass Gottes Reich bald anbricht, für die ganze Welt und vollständig: ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Manchmal wird sie schon spürbar, die Sonne der Gerechtigkeit, wie sie im Reich Gottes scheint.
Mitten im Leid erwacht aus der Erinnerung die Vision einer Zukunft. Manchmal können wir diese Zukunft erahnen hinter der Welt, die wir sehen.

In der Hoffnung auf ihre Herrlichkeit verlieren die Leiden der Zeit an Gewicht. Die Hoffnung gerinnt zur Bitte: Lass dein Reich kommen. Bald! Nicht nur für mich, sondern auch für die Eidechse, die sich in einem Erdloch verkrochen hat und deren Kopf und Vorderbeine nun versuchen, sich in Sicherheit zu bringen, während der Rest des Körpers, von meiner Hacke abgetrennt, entgegengesetzt davonfliegt. Ich hatte sie beim Hacken des Weinbergs übersehen. Nun dresche ich mit der stumpfen Seite der Hacke auf sie ein. Nach fünf Schlägen nimmt es endlich ein Ende. Diese Eidechse geht mir lange nach. Ach Herr, dass doch dein Reich komme – für die ganze Welt!

Solange es nicht leibhaftig über die ganze Schöpfung erstrahlt, bleibt die grundlegende Spannung: Auf der einen Seite drohen Menschen im Angesicht der Leiden die Hoffnung zu verlieren, zu resignieren oder zynisch die Hoffnung abzuwehren. Auf der anderen Seite hält Paulus die Erinnerung daran wach, dass der Kampf bereits entschieden ist: Jesus Christus wurde selbst aus der totalen Verzweiflung, selbst aus dem Tod zu neuem Leben erweckt. Dass er wiederkommt und auch uns neues Leben bringt, darauf wartet Paulus. Drängend, hoffnungsvoll und doch geduldig wartet Paulus, dass Jesus Christus wieder kommt und die ganze Schöpfung von ihrem Leiden erlöst, dass das Leid ein Ende nimmt für alle Ewigkeit und Freude an seine Stelle tritt. Es geht um nichts anderes, als dass hier jemand daran festhält, dass die glücklichen Momente seines Lebens keine Lüge waren, dass das Gefühl, in etwas Größerem, Guten aufgehoben zu sein keine Täuschung war. Paulus begriff die glücklichen Momente seines Lebens als Vorausschau auf die Wiederkunft des Herrn.

Paulus hat danach gesucht, was leben hilft, ohne dabei die Augen vor dem Leid verschließen zu müssen. Er hat eine Möglichkeit gefunden, in die Welt zu sehen, ohne Zäune gegen die Armut bauen zu müssen, damit sie ihm nicht im Vorgarten herumläuft. Er hat eine Möglichkeit gefunden, am Kranken- und Sterbebett sitzen bleiben zu können, ohne davonlaufen zu müssen. Er hat eine Möglichkeit gefunden, selbst sterben zu können, ohne weglaufen zu wollen. Sondern dem Tod wie dem Leben neugierig, erwartungsvoll entgegen zu gehen. Er sieht eine Möglichkeit auf die Welt zu blicken, ohne zu hoffen, dass alles möglichst schnell ein Ende findet, damit endlich Ruhe ist.

Durch die Erinnerung an die Auferstehung Jesu von den Toten mag Paulus ein Stück des kindlichen Paradieses wiedergewonnen haben: Das Gefühl in etwas Größerem, Guten aufgehoben zu sein - auch angesichts des Leids. Doch das Gefühl ist nicht das Entscheidende. Denn die Auferstehung des an Gott verzweifelten Jesus machte die Erlösung zu einer Tatsache – ob wir das Gefühl haben getragen zu sein oder an Gott und der Welt verzweifeln. Denn Gott hat den auferweckt, dessen Gefühl aller Hoffnung entgegenstand: Jesus den verzweifelt Gestorbenen. Der Horizont des Paulus ist erfüllt von dieser Erkenntnis. Und er brach auf, der Welt davon zu erzählen.
Bitte begeben auch Sie sich auf die Suche nach der Hoffnung, die ihnen hilft, ehrlich auf die Welt und ihr Leid blicken können. Brechen Sie auf in die Morgenröte der neuen Welt! Dabei bewahre der Herr, unser Gott, unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Vikar Michael Krauß    (Hospitalkirche Hof)

Text: 

Paulus schreibt:

(18)Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.
(19)Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.
(20)Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung;
(21)denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
(22)Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.
(23)Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.
(24)Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?
(25)Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.


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