Predigt     Römer 8/26-30   Exaudi    04.05.08

"Die wahre Geschichte"
(Predigt zur Jubelkonfirmation
von Pfr. Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

Wilhelm Genazino, der Schriftsteller und Büchner-Preisträger des Jahres 2004, kann als ein Meister der Beschreibung von Alltäglichkeit gelten. In seinem Roman „Mittelmäßiges Heimweh“ erzählt er von Dieter Rotmund, einem Mann etwa Mitte Vierzig mit einer beinahe gescheiterten Ehe, aber nicht wenig Erfolg im Beruf.

Rotmund sagt: „Das Schmerzliche ist, dass das Leben so sehr bekannt ist und deswegen so verschlissen erscheint.“ (113) „Ich kann eigentlich nur noch arbeiten (lang arbeiten), fernsehen (kurz fernsehen), schlafen (mittellang und mittelgut) und trinken (bis jetzt: mäßig). Das Deprimierende ist, dass ich nicht angeben kann, was sich ändern müsste, damit ich mich wohl fühle; ich kann immer nur denken, dass alles unzureichend ist und dass ich mich von allem, was es gibt, entfernen möchte, und zwar sofort und ohne Umkehr.“ (150) „Im Grunde“, meint Rotmund an anderer Stelle, „erwarte ich immer noch, dass sich das Dasein innerhalb der Lebensspanne eines Menschen zu einem Sinn hin entwickelt. Ich werde die Aufmerksamkeit für mein Leben zurückziehen, falls sich kein Sinn zeigen sollte. Meine Melancholie über den fehlenden Sinn ist mir vertrauter als das sinnlose Warten auf die Verbesserung von ... ach, ich habe keine Lust, über diese törichten Dinge weiter nachzugrübeln.“‘ (179, zitiert nach Alexander Deeg, GPM, 1/2008, Heft 2, S. 247)

Wann fangen diese Gedanken an - mit Mitte vierzig? Die Gedanken, dass einem die Welt nicht gehört und das Leben mit nichts zu bezahlen ist; dass der eigene Beitrag zur Geschichte der Welt und des Lebens kaum der Rede wert ist und man es nicht schaffen wird, in irgendeinem Geschichtsbuch erwähnt zu werden, das wahrscheinlich eh keiner lesen wird. Wann fängt sie an, diese Melancholie, die einen dazu bringt, sein Leben so dann und wann als Kette von Demütigungen zu begreifen? Ganz zu schweigen von den handfesten Niederlagen. Die Ziele des Lebens, einen Baum zu pflanzen, ein Kind zu zeugen oder auf die Welt zu bringen, ein Buch zu schreiben, Erfolg zu haben, oder sagen wir besser, das zu erreichen, was die Zeit in der wir leben für einen Erfolg hält - wo ist der Sinn? Wann fangen sie an, diese Phasen der Ohnmacht und die Angst vor der Ohnmacht erst, die uns am Ende erwartet?

Aber warum erzähle ich Euch, was Ihr eh schon wisst, wenn Ihr ein paar Jährchen auf dem Buckel und ein paar rauschende Jubiläen hinter Euch habt? Andererseits - tut es nicht gut, das einmal laut zuzugeben und zu hören? Wo wir doch heute gar nicht mehr alt werden dürfen und bis zum Schluss zu funktionieren haben. In hohem Alter hinter der Werkbank oder dem Schreibtisch umkippen und kerngesund sterben, das ist es doch, was sich Finanz-, Renten- und Gesundheitspolitiker von uns wünschen und was ja immer mehr Pflicht wird. So wie wir - vielleicht schon bald - bis zum letzten Atemzug zu ebenso grenzenlosem, wie grundlosem Optimismus verdammt sind, denn sonst gibt’s Tabletten.

Wir sind uns einig, dass das unmenschlich wäre. Was Rotmund fühlt und denkt, ist menschlich. Jeder, der ihm solches nachfühlen kann oder muss, hat einen starken Verbündeten. Gott selbst! Denn Gott ist der Verbündete einer menschlichen Welt. Sogar der Heilige Geist, also Gott selbst, kann ganz unaussprechlich seufzen. Denn der Heilige Geist ist sozusagen die Standleitung Gottes zu unserer Welt. Er ist wie das Riesenohr Gottes, das er ganz dicht an unserer Welt und an unserem Herzen liegen hat, und dem nicht der kleinste Seufzer entgeht.

Ich werde Euch deshalb nicht fragen, wann Ihr das letzte Mal wirklich gebetet habt. Weil ihr, wie Rotmund das sinnlose Warten auf die Verbesserungen kennt und vielleicht wie er keine Lust mehr habt, mit irgendjemand und auch nicht mit Gott über all diese törichten Dinge nachzugrübeln oder gar zu reden. Ich werde euch nicht fragen, wann Ihr das letzte Mal wirklich gebetet habt, weil Ihr es in der letzten Zeit oder vielleicht heute morgen schon getan habt - als Ihr mit einem Seufzer aufgestanden seid, um wieder einen Tag zu beginnen; als ihr in der Zeitung gelesen habt von Terror, Krieg und Verbrechen; als ihr das Telefon seufzend betrachtet habt. Wieder haben die Kinder nicht angerufen.

All diese Seufzer haben sofort die höchste Aufmerksamkeit, die es gibt. Sie haben die Aufmerksamkeit Gottes. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Wenn Ihr das nächste Mal seufzen müsst, dann werdet Euch bewusst, dass Ihr betet; dass Gott sich zu Euch her wendet, weil er Euren Seufzer gespürt hat. Das wird Eurer Schwachheit aufhelfen.

Paulus setzt noch einen drauf. Was er jetzt schreibt, gehört für mich zu den erstaunlichsten Sätzen der Bibel: Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Oder anders übersetzt: Wir wissen, das Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten wendet. Alles wird gut. Jetzt wisst Ihr, wo Nina Ruge diesen Satz her hat. Aber wenn Nina Ruge im Fernsehen uns solches verspricht, dann klingt das, Pardon, einfach dämlich. Freilich beruft sich Paulus nicht auf Nina Ruge und auch nicht auf sich selbst, sondern auf Gott. Es gehöre sozusagen zum Wesen Gottes, alles zum Guten zu wenden. Und das können wir wissen!

Es ist ja noch lange nicht alles gesagt, wenn wir sagen, dass Gott unsere Seufzer in seinem Herzen spürt. Er könnte ja auch die himmlischen Achseln zucken und seinerseits seufzen: Ja, ja, so ist das Leben auf der Erde. Kurz und beschissen. Er könnte denken: Recht geschiehts ihm; oder: Das hat er davon; oder: Das Leben ist eben ungerecht. Da muss ich mir das nächste Mal was Besseres ausdenken. Und dann könnte er im himmlischen Fernsehen auf einen anderen Kanal umschalten.

Aber das alles denkt und tut Gott nicht. Paulus spannt zur Begründung eine „catena aurea“, eine goldene Kette: Die Gott aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.

Die Gott vorherbestimmt hat, das seid Ihr. Hier in der Kirche oder anderswo seid ihr getauft worden. Die er berufen hat, das seid auch Ihr. Ihr feiert heute das Jubiläum Eurer Konfirmation, die hier in der Hospitalkirche stattfand. Die er gerecht gemacht hat, das seid wieder Ihr. Wie oft seid ihr seit dem ersten Mal eingeladen gewesen zur Beichte und an den Tisch des Herrn. Diese Einladung steht für den Rest Eures Lebens. Die er verherrlicht hat, dass seid schließlich wieder Ihr, wie Ihr fröhlich, lachend und ohne einen Seufzer am Tisch sitzt und feiert im Reich Gottes.

Hallo, denkt ihr vielleicht, das mit dem Verherrlichen kommt ja wohl erst viel später, wenn überhaupt. Abgerechnet wird am Schluss. Wers glaubt, wird selig. Ich aber sage Euch: Falsch gedacht. Dass ihr im Reich Gottes feiern werdet, ist so sicher, wie das Amen in der Kirche. Denn das liegt nicht an Paulus oder an irgend jemand anderes, schon gar nicht an den Pfarrern, die Euch im Lauf Eures Lebens erfreut oder maßlos geärgert haben. Es liegt nicht an Eurer Kirche und nicht mal an Euch. Es liegt allein an Gott selbst und dem Christus, der euch in seine Nachfolge gerufen und erlöst hat. Das liegt allein daran, dass Gott zu seinem Wort steht.

Und wenn ihr schon keinem mehr traut und nicht mal Euch selbst, dann überlegt einmal, ob ihr nicht Gott vertraut - vielleicht ohne es richtig zu wissen und ohne es Euch richtig zuzugeben. Denn ohne Vertrauen könntet ihr gar nicht mehr leben. Vielleicht ist es wie mit dem Seufzen, das auf einmal und in Wahrheit zum Gebet wird. Von deiner Gnade leben wir und was wir haben kommt von dir … Ja wirklich, so ist es und so wird es sein.

Was macht es schon, wenn wir den Sinn unseres Lebens vielleicht niemals erfahren? Gott, der uns das Leben gab, kennt ihn. Das reicht. Was macht es schon, wenn wir in keinem Geschichtsbuch dieser Welt Erwähnung finden. Freut Euch, dass Eure Namen im Himmel geschrieben sind (Lukas 10/20).

Ja, Rotmund, du sprichst uns aus der Seele. Manchmal befällt uns schon mehr, als mittelmäßiges Heimweh. Aber unsere Geschichte gehört nicht nur zur Geschichte unserer Welt. Sie ist seit unserer Taufe in der Geschichte des Christus aufgegangen. Sie gehört in die Geschichte Gottes. Diese Geschichte geht gut aus. In dieser Geschichte gehört dem Leben die Zukunft. In jedem Fall. Und deshalb hört Gott nicht auf, seine ganze Aufmerksamkeit dem Leben zuzuwenden; unserem Leben zuzuwenden. Wie könnten wir uns da vom Leben abwenden, was es auch bringt?

Am Ende werden wir lachen. Gott will es so. Wisst Ihr warum? Weil lachende Menschen einfach besser aussehen.

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text:

Paulus schreibt:

26 Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.
27 Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt.
28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.
29 Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
30 Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.


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