Liebe Leser, Am 9. November 1938 wurden in Deutschland viele
jüdische Gotteshäuser zerstört. Auch in Hof wurde der Synagoge am
Hallplatz am Tag nach der sogenannten Reichskristallnacht, am 10.
November, ein gewaltsames Ende bereitet. Eine Gedenktafel am
Flachbau neben dem Feuerwehrgebäude erinnert an diese Synagoge. Die
Einrichtung des Gotteshauses wurde damals an die Saaleauen gebracht
und verbrannt. Ein Mädchen hat damals eine Schriftrolle mit nach
Hause genommen. Für lange Jahre erstarb auch in Hof wie in vielen
anderen Orten in Deutschland das jüdische Leben. Erst 1999 wurde die
ehemalige Schule in Moschendorf an der Oberkotzauer Straße in eine
Synagoge umgebaut. Aus Russland sind Juden nach Hof gekommen und
bilden eine neue Kultusgemeinde mit einem eigenen Rabbi, der Kinder
und auch Erwachsene mit den jüdischen Gebräuchen und Lehren vertraut
macht. Die damals gerettete Schriftrolle wurde der jüdischen
Gemeinde übergeben. Die jüdische Gemeinde ist für mich ein
deutliches Zeichen, wie Gott an seinem erwählten Volk, das er
berufen hat, festhält.
Betrachten wir das Datum des 9. November. Dietrich Bonhoeffer hat in
seiner persönlichen Bibel an den Rand von Psalm 74 das Datum
geschrieben: 9.11.1938 und den entsprechenden Vers unterstrichen:
„Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande.“ Psalm 74 beginnt mit
einer bewegenden Klage: „Gott, warum verstößest du uns für immer und
bist so zornig über die Schafe deiner Weide? Gedenke an deine
Gemeinde, die du vorzeiten erworben hast.“
Bonhoeffer deutete die erschütternden Klagen von Psalm 74 auf seine
Zeit und auf das Verbrennen der jüdischen Gotteshäuser. Er war als
Mitglied der Bekennenden Kirche von Anfang an leidenschaftlich für
die verfolgten Juden eingetreten. Er litt darunter, wie stumm die
Kirchen blieben und schweigend dem Unrecht zusahen. Er wusste, dass
die Kirchen Schuld auf sich luden. Er wurde im April 1945
hingerichtet. Er erlebte die Vertreibung nach dem Kriege nicht mehr
mit und auch nicht die Teilung Deutschlands, die schweren Folgen des
Zeiten Weltkriegs für Deutschland.
Aber gerade dieses Datum 9. November hat in der Geschichte des
deutschen Volkes noch einmal eine große Rolle gespielt. Im Jahre
1989 fiel die Mauer am 9. November, die die Bundesrepublik und die
DDR getrennt hatte. Damit endete eine der schlimmsten Folgen des
Zweiten Weltkriegs. Der Plauener Superintendent Thomas Küttler, der
so viel beigetragen hat, dass die Wende friedlich und erfolgreich
verlief, hat einmal den inneren Zusammenhang zwischen dem 9.
November 1938 und dem 9. November 1989 geistlich gedeutet. Dem
deutschen Volk wurde die Schuld vergeben, weil Gott treu und
barmherzig und gnädig ist. Paulus bezeugt in unserem Predigttext die
Treue Gottes: „...und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre
Sünden wegnehmen werde.“
Bonhoeffer und Küttler haben beide biblische Aussagen auf ihre Zeit
bezogen und gedeutet auf Grund ihrer Erfahrungen und der Gewissheit,
die vor Gott im Gebet erlangt oder auch errungen wird.
So verstehe ich auch den Theologen Paulus. Er deutet die
Erfahrungen, die er als ehemaliger Jude und dann als Christ gemacht
hat. Er versucht die erstaunlichen Wege Gottes zu begreifen. Gott
hat sein Volk Israel berufen und die Verheißungen, die Gott den
Glaubensvätern Abraham, Isaak und Jakob gegeben hat, die bleiben
gültig. Denn „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“
Aber ausgerechnet Israel stellt sich weitgehend störrisch und
verhärtet sich und will den Ruf Gottes, der durch Jesus ergeht,
nicht hören und ihm nicht folgen. Aber die Heiden, die bis dahin von
Gott nichts wissen wollten, nehmen das Evangelium an und lassen sich
taufen. Wir spüren, wie Paulus hin- und hergerissen ist, wie er
ringt und die Wege Gottes zu verstehen sucht. Er zitiert Worte aus
den Propheten und will damit die Wege Gottes mit seinem Volk
aufzeigen. Wir wissen, wie er täglich im Gebet den Willen Gottes
ergründen wollte.
Paulus spricht von einem Geheimnis. Er meint damit nichts
Geheimnisvolles oder gar Mysteriöses. Das Geheimnis, von dem Paulus
schreibt, ist Gott bereits bekannt und Paulus ist gewiss, seinem
Gott auf die Spur gekommen zu sein. Gott hält fest an seinem Volk,
das sich als störrisch erweist, aber nicht für immer. Auch die
Heiden, die sich von Gott rufen ließen, waren ja zuvor auch
störrisch oder verblendet oder verdorben. Erst durch die Gabe des
erneuernden Geistes wurden sie zu anderen, zu neuen Menschen. So ist
Paulus gewiss, auch die verhärteten Juden werden sich einmal von der
Gnade und Barmherzigkeit Gottes erweichen lassen und den Ruf durch
Jesus Christus am Ende annehmen. Paulus verweist aber auch darauf,
dass es im spannungsreichen Verhältnis von Juden und Christen auch
um menschliche Regungen geht. „Haltet euch nicht selbst für klug“,
mahnt er. Gott hat beide berufen: die Juden und die Christen. Keiner
kann dem andern den Rang streitig machen.
Unsere bayerische Landeskirche hat im Jahre 1998 auf der Tagung der
Landessynode in Nürnberg ein Wort zum Verhältnis von Christen und
Juden mit dem Titel „Schuld und Verantwortung“ verabschiedet. Darin
wird erklärt zur gemeinsamen Wurzel von Judentum und Christentum:
„Jüdischer Glaube und christlicher Glaube leben aus einer Wurzel.
Juden und Christen bekennen sich zudem einen Gott, dem Schöpfer und
Erlöser. Juden und Christen verstehen sich beide als "Volk Gottes“.
An die spannungsreiche und belastete Vergangenheit von Juden und
Christen wird erinnert:
„Diese Gemeinsamkeiten haben Christen über Jahrhunderte hinweg
vergessen und verleugnet, missdeutet und uminterpretiert.“
Ein Neuanfang im Verhältnis von Christen und Juden soll gemacht
werden. Wir sind als Christen die jüngeren Geschwister der Juden
geblieben, auch wenn wir zahlenmäßig weltweit viel mehr Mitglieder
haben. Doch wir haben das jüdische Volk nicht beerbt. Nein, wir sind
lediglich zum Kreis der Erwählten und Berufenen hinzugekommen.
Ich finde, dass es das Lied 293 schön ausdrückt, eine Nachdichtung
des ganz kurzen Psalms 117:
„Lobt Gott, den Herrn, ihr Heiden all,
Lobt Gott von Herzensgrunde,
Preist ihn, ihr Völker allzumal,
Dankt ihm zu aller Stunde,
Daß er euch auch erwählet hat
Und mitgeteilet seine Gnad
In Christus, seinem Sohne.“
Freuen wir uns, dass er uns auch erwählet hat.
Dekan
i.R. Rudolf Weiß
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Text:
Paulus schreibt:
25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses
Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug
haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis
die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;
26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht
(Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser,
der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.
27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen
werde.«
28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen;
aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter
willen.
29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.
30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber
Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams,
31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der
Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt
Barmherzigkeit erlangen.
32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er
sich aller erbarme.
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