Liebe Leser,
eine Aufforderung wie die Jahreslosung 2011 kann man nicht ohne
Vorbemerkungen predigen und schon gar nicht ohne den inneren
Zusammenhang, in dem sie bei Paulus steht:
„Der Gegensatz zum Bösen ist nicht die Tugend oder das Gute, sondern
der Glaube. Darum ist das Böse nicht in ein ethisches System zu
fassen. Paulus bietet im 12. Kapitel seines Römerbriefs keine Ethik,
sondern Ermutigung, Ermahnung und Tröstung in einem. Getröstet
werden die, die Herz und Sinn bereits im Glauben auf den Christus
ausgerichtet haben. Paulus ermahnt durch die Barmherzigkeit Gottes (Röm
12,1). Das Folgende gibt dem Christenmenschen Anregung, wie der
Geist Jesu Christi im Leben der Einzelnen und der Gemeinden Gestalt
gewinnen kann, nämlich als Gottesdienst im Alltag der Welt. Nur die
vom Heiligen Geist bereits Angewehten können so ermahnt werden. Nur
die, die schon bei Trost sind, können durch die Erinnerung an die
Barmherzigkeit Gottes auch getröstet werden. Für die Trostlosen,
weil Geistlosen, gereicht die Ermahnung nicht zum Trost. Sie wird
vielmehr wieder zur trostlosen Moral, die sich die einen verbitten
und durch die sich die anderen zum Richter bestellen lassen.
Nach Umfragen erwartet die Mehrheit der Bürger von den Kirchen, dass
sie den Egoismus in der Gesellschaft zurückdrängen und für mehr
Menschlichkeit sorgen. Zugleich bestreitet dieselbe Mehrheit den
Kirchen das Recht, zur Lebensführung des Einzelnen Stellung zu
nehmen oder gar Ratschläge zu geben und Normen aufzustellen. Nicht
die religiöse Quelle bestimmter Haltungen wird geschätzt, sondern
das Ergebnis, die sozialen Konsequenzen eines engagiert gelebten
Christentums. Mit anderen Worten: Die Mehrheit erwartet von den
Kirchen, dass diese den Menschen und die Welt verbessern. Von Gottes
Wort will sie nichts wissen. Ja selbst unter den Kirchlichen gibt es
viele, die weit davon entfernt sind wie Paulus unter dieser Welt zu
leiden und sich nach Gott und seinem Wort auszustrecken. Tugend,
Anstand und Moral, das zählt für sie. Das wird erwartet. Und wie
viele Kirchlichen tun ihnen den Gefallen sich als Führer in der
Wertediskussion, als Gemeinplatzbewacher, als Moralapostel
aufzuspielen, weil sie selbst Heil und Heilung dieser Welt nicht von
Gottes Handeln, sondern von den Geboten, dem Gesetz, der Ordnung und
den christlichen Grundwerten erwarten. Damit sind sie aber für den
Apostel Paulus genau die geworden, die sich „dieser Welt
gleichstellen“ (Röm 12,1), und die er unter Tränen „die Feinde des
Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) nennen muss. Und der Seelenkenner
Dostojewski ruft aus: Ein anständiger Mensch, was für eine Bestie!“
(frei nach Heinrich Braunschweiger, GPM 2/1990, Heft 3, S. 318f.)
Auch Jesus der Christus zeigt uns im Gleichnis vom barmherzigen
Samariter zwei fromme Anständige, die nichts gemacht haben und sich
strikt an die Vorschriften halten. Sie haben nur ihre Pflichten im
Auge und machen sich – anders als der barmherzige Samariter – der
unterlassenen Hilfeleistung schuldig (Lk 10,25 ff.). So wie all die,
die der Christus im Gleichnis vom Weltgericht zur Linken stellen
muss: lauter Anständige, die nichts gemacht haben und sich gerade
dadurch der aus Gleichgültigkeit und Feigheit unterlassenen
Hilfeleistung und Solidarität mit den geringsten
Menschengeschwistern schuldig gemacht haben (Mt 25,31 ff.). Ein
anständiger Mensch bleibt kein anständiger Mensch dadurch, dass er
nichts Unanständiges tut und sich die Hände nicht schmutzig macht.
Zuwenig des Guten. Und schon hat das Böse gewonnen.
Dieser Tage las ich – druckfrisch - in einer frommen
Bekehrungsschrift: „Zum Schluss bleibt dann nur noch die Strafe. Du
strafst das Kind aber nicht, weil du Gefallen daran hast, sondern
weil es der einzige Weg ist, das Kind vor größerem Schaden zu
bewahren. In Wirklichkeit tut es dir selbst weh, aber du nimmst
diesen Schmerz in Kauf, um Schlimmeres zu vermeiden. Weh dem Vater,
der es versäumt sein Kind zu strafen. Er handelt eigensüchtig und
lieblos. Seine Bequemlichkeit geht ihm vor dem Wohl des Kindes.“
Zitat Ende. So haben Väter und Erzieher, die die Ihnen anvertrauten
Kinder in der Familie und in den „Rettungshäusern“ (wie die Heime
damals hießen) grün und blau geschlagen haben, ihre Lust am Prügeln
und Strafen christlich gerechtfertigt. Bestimmt und hoffentlich gab
es in den Heimen auch welche, die den Schlägern in den Arm gefallen
sind mit den Worten: Hör auf, das ist zu viel des Guten. Zuviel des
Guten. Und schon hat das Böse gewonnen.
Ja, das Böse hat in unserer Welt allen Grund sich schlapp zu lachen
über all die, die nur ihre Pflicht getan haben und all die, die es
nur gut gemeint haben. Ach, es gibt so viel Gutes, das sich in den
Dienst des Bösen stellen lässt, dass in der Hölle schon die
Sektkorken knallen und die Gläser klingen. Nicht nur am Jahresende
ist der Weg dorthin mit guten Vorsätzen gepflastert.
Wir tun deshalb gut daran, wenn wir uns mit Paulus von all dem
abwenden, was wir für gut und böse halten und uns dem zuwenden, der
allein der Gute ist. Wenden wir uns – durch eigene Niederlage
beraten – Gott selbst und seinem Wort zu.
„Und das kann überall und jederzeit geschehen, sogar mitten im
Krieg. So am 26. April 1945: Ein LKW rast mit 21 deutschen Soldaten
durch Norditalien. Die Front hat sich aufgelöst, überall sind
Partisanen. In einem Dorf wird der LKW von allen Seiten beschossen.
Der tödlich getroffene Fahrer lenkt das Auto noch von der Fahrbahn.
Die drei Soldaten auf dem Vordersitz sind tot, die übrigen 18 werden
von einer wütenden Menge aus dem Auto gezerrt: „Al muro! An die
Mauer!“ Einer der Deutschen spricht mit dem Chef der Partisanen, der
eine blutrote Binde trägt. Er scheint vernünftig zu sein, aber die
Menge bedroht auch ihn. So marschieren sie in einen Steinbruch. „Al
muro!“ schreien die Partisanen wieder. Noch einmal spricht der
Deutsche mit dem Partisanenchef. Die deutschen Soldaten dürfen noch
ein letztes Vaterunser sprechen. Alle knien nieder und beten. Dann
erheben sie sich lautlos und treten still an die Mauer. Eine erneute
Bitte des Unterhändlers: „Darf ich für Sie alle nach dem Vorbild
Christi ein Vaterunser beten?“ „Padre nostro, beginnt er auf
Italienisch. Alle Italiener beten bis zum Amen mit. Und dann, dann
ist nicht mehr die Möglichkeit gegeben, nachdem man miteinander und
füreinander gebetet hat, aufeinander zu schießen. Befehle. Abmarsch.
Die 18 marschieren aus dem Steinbruch unangefochten zur nächsten
Kreisstadt, kommen dort in ein Gefangenenlager und später nach
Hause.“ (Heinrich Braunschweiger, a.a.O., S. 320f.)
Wo die Barmherzigkeit Gottes im Raum steht, bekommen alle Dinge
einen neuen Platz. „Martin Luther hat es so formuliert: der
Glaubende, das ist der sich auf Gott verlassende Mensch, tut frei,
fröhlich und umsonst, mit Lust, aus Liebe und Freiheit, was Gott
wohlgefällt. Ja, der Christ bedarf nicht einmal mehr des Gesetzes
und des Mose, um Gutes zu tun. Sein Handeln ist schöpferisch, so
sehr, dass es sogar neue Dekaloge (neue Gebote) zu schaffen imstande
wäre, die klarer wären, als die des Mose. Denn wirklich sittliches
Handeln bringt mit der Form auch die Regeln des Handelns selbst
hervor. Es tut nicht nur das Selbstverständliche, es schafft neue
Selbstverständlichkeiten. … Wo dies geschieht, wo sich die neuen
Möglichkeiten des Glaubens an den harten Notwendigkeiten der Welt
bewähren, da endet das Paradies der Werte und da beginnt, um es mit
einer (Bochumer) Metapher zu sagen, der Abschied vom
Unverbindlichen.“ (Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit, Mohr Siebeck,
2003, S.92)
„Ich in dir, du in mir“ (EG 165,5), so lautet ein Herzensgebet des
Glaubens. Es will fürs neue Jahr gebetet sein. Denn vor diesem Gebet
und seinem machtvollen Licht fliehen alle Nächte.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem.
Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen
Frieden.
19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn
Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist
mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet
ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige
Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).
21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das
Böse mit Gutem.
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