Liebe Leser,
da habt ihr den Salat! Da seid ihr heute in die
Kirche gekommen um Weihnachten zu feiern und dann wird euch ein
solcher Bibeltext vorgesetzt, in dem alles drin zu stecken scheint,
was ihr an der Kirche gar nicht mögt: Zucht und Ordnung, weltliche
Begierden, zu deutsch: alles was Spaß macht, wovon die Kirche aber
angeblich nicht viel hält und schließlich sollt ihr auch noch Fromme
werden, für die die Hofer einen schönen Spruch haben: Je heilicher,
desto greilicher (Je heiliger, desto gräulicher). Wo bitte geht’s
hier wieder raus?
Ich bitte euch trotzdem, noch ein Weilchen sitzen zu bleiben. An
Weihnachten hat die Kirche und vor allem Gott eine zweite Chance
verdient. Denn schließlich hat er das Weihnachtsfest erfunden. An
Weihnachten hat Gott eine zweite Chance verdient, auch wenn seine
Vertreter auf Erden manchmal eine ganz schlechte Figur machen. Auch
wenn sie vielleicht sogar verhindern, dass Gott euch zum
Weihnachtsfest erreicht, weil sie euch statt der Herrlichkeit Gottes
ihr eigenes wenig vorteilhaftes Gesicht gezeigt und es vielleicht
sogar für Gottes Gesicht ausgegeben haben.
Gott hat es nicht einmal am Weihnachtsfest leicht. Wenn wir genau
übersetzten, weiß unser Predigttext auch, dass Gott an Weihnachten
nicht - sozusagen - automatisch allen Menschen erscheint. Ja, er ist
auf dieser Welt erschienen, angekommen, aufgekreuzt - aber wer guckt
schon nach im Stall von Bethlehem, oder nach den Sternen, wie die
Weisen aus dem Morgenland.
Auch unsere Welt tut ja gerade an Weihnachten alles, dass wir
überall nachschauen, bloß nicht dort. Das Fernsehen tut alles, dass
wir an Weihnachten lieber vor der Glotze sitzen. All die
Weihnachtsmänner und -frauen bestreuen uns bereits seit Wochen aus
ihren Säcken mit all diesem lackierten Weihnachtsstaub, dass man bis
Heilig Abend kaum mehr aus den Augen schauen kann. Und wer hält vier
Wochen Weihnachtsgedudel aus, ohne an den Feiertagen schon ein wenig
weich in der Birne zu sein?
Kurz: wenn Gott erscheint, hat er es nicht leicht mit der Welt und
mit seinem eigenen Bodenpersonal, das eben auch bloß ein Teil der
Welt ist. Denn die Welt möchte meistens lieber selbst erscheinen und
in ihrer Herrlichkeit leuchten, statt Gott den Vortritt zu lassen.
Das - und nichts anderes ist - die weltliche Begierde: Wir wollen am
liebsten selbst ein bisschen göttlich sein. Ob das wirklich Spaß
macht, darf man schon einmal fragen. Ob das jemand heil und gesund
macht, darf man schon einmal fragen. Ob wir das wirklich können,
darf man schon einmal fragen. Ob das uns wirklich rundum glücklich
macht, darf man schon einmal fragen.
Und ihr selbst gebt heute die Antwort, indem ihr gekommen seid. Euer
Kommen sagt: Es fehlt uns etwas! Unser weihnachtlicher Predigtext
nennt es die „Gnade Gottes“. Sie erscheint in der Weihnacht nicht
automatisch allen Menschen, aber wer sie sucht, der darf sie für
sich finden. Denn sie ist dazu da, alle Menschen heil zu machen.
Alle! Denn die Gnade Gottes ist erschienen - heilsam für alle
Menschen.
Diese Gnade ist heilsam für uns, weil sie uns Mensch sein lässt und
nichts als Mensch. Diese Gnade ist heilsam, weil sie uns Menschen
sein lässt, die Gott gehören; und eben nicht ihrer Herkunft, ihrer
Hautfarbe, ihren sozialen und finanziellen Verhältnissen, ihrer
Gesellschaft, ihrer Kirche, ihrem Arbeitgeber, ihrer Partei, ihrem
Staat, ja nicht einmal ihrer Familie. Jetzt, im Weihnachtslicht,
jetzt, in diesem Gottesdienst sind wir alle gleich. Nicht weil wir
uns als Menschen in unseren Gaben und Fähigkeiten gleich wären,
sondern weil wir uns darin gleich sind, dass wir an Weihnachten
Kinder der Liebe Gottes werden, Menschen die Gott gehören. Und so
können wir heute den, der neben uns sitzt anschauen und wissen:
Dieser Mensch ist wie ich, ein Mensch, der Gott gehört.
Diese Gnade Gottes ist heilsam, weil sie uns ganz zu Gott gehören
lässt und uns sozusagen losbindet von allem, was uns sonst noch
binden will. Im Weihnachtslicht gehören wir nicht länger anderen
Menschen. Im Weihnachtslicht gehören wir nicht einmal mehr unserem
Schicksal; nicht einmal mehr unseren Sorgen, unseren Problemen,
unseren Gewohnheiten und Abhängigkeiten, unseren Krankheiten,
unserem Leid und unserer Trauer. Im Weihnachtslicht gehören wir
nicht einmal mehr unserer eigenen Vergangenheit, unseren Sünden und
unserer Schuld. Sondern unserem Heiland Jesus Christus, der sich
selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller
Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum. An
Weihnachten gehören wir nicht einmal mehr dem Tod, sondern dem, der
von den Toten auferstand. An Weihnachten beginnt seine Geschichte.
Und unsere auch! Denn „das christliche Leben ist nicht Frommsein,
sondern Frommwerden; nicht Gesundsein, sondern Gesundwerden; nicht
Sein, sondern Werden, nicht Ruhe, sondern Übung.“ So hat das Martin
Luther formuliert. Und wir folgern daraus: Ein Mensch, der meint,
schon fromm und heilig zu sein, ist im besten Fall ein eingebildeter
Mensch. Den mögen wir zurecht gräulich finden. Ein Mensch, der
meint, mit dem Glauben fertig zu sein und Gott nicht zu brauchen,
ist bestenfalls ein ebenso eingebildeter Mensch. Ein Mensch, der
nichts mehr werden kann und will, ist ein toter Mensch. Ein Mensch,
der zu Gott gehört, muss um Gottes Willen lebendig sein und lebendig
werden.
Und wir sehen daran leicht, dass fromm werden auch etwas anderes
bedeutet, als sich zurückzuziehen in die innere Harmonie, in die
innere Ruhe und den eigenen Lebenssinn. Ein frommer Mensch ist ein
Mensch, der Teufel, Tod, Hoffnungslosigkeit und Leid dieser Welt zum
Trotz, die Segel der Hoffnung setzt und wieder hinausfährt in sein
eigenes Leben und in das Leben dieser Welt. Das sind für Gott fromme
Leute, die es aufgeben, übermenschlich und am Ende unmenschlich sein
zu wollen und sich stattdessen als Mensch den Menschen wieder
zuwenden. Dass sind für Gott fromme Leute, die die Zurückgezogenheit
ihrer Jammerseligkeit aufgeben und wieder anfangen für Gerechtigkeit
zu kämpfen und Verantwortung zu übernehmen. Fromm werden heißt,
mutig werden. Und mutig dürfen wir an Weihnachten werden, weil das
Weihnachtslicht, weil die Gnade Gottes erschienen ist, um uns
loszulösen von allem, was uns auf dieser Welt binden will.
Gottesnähe ist die beste Form der Weltdistanz, und die hat nichts
mit Mutlosigkeit, Hoffungslosigkeit und Gleichgültigkeit zu tun. An
Weihnachten erscheint die Liebe Gottes und wer sich der Krippe
nähert, muss mit dieser Liebe Gottes selbst wieder anfangen, diese
Welt und ihre Menschen zu lieben.
Unseres Weihnachtstext aus dem Titusbrief besteht aus einem Satz.
Einem Satz, in dem sich die Vergangenheit der Geburt Jesu Christi
und die Zukunft der Welt zusammenbinden. Wir blicken zurück auf das
Wunder, dass Gott zur Welt gekommen ist und wir schöpfen daraus die
feste Hoffnung, dass Gott diese Welt nie mehr alleine lassen wird,
bis er sie nach Hause gebracht hat ins Himmelreich. Das steht fest.
Wie könnten wir da die Hoffnung für unser Leben und unsere Welt
aufgeben?
Wie könnten wir uns da zurückziehen in den Schmollwinkel der
Beschwerde oder die Flucht nach vorn antreten in die Anmaßung des
Übermenschen? Die großen Probleme unserer Welt können beides nicht
brauchen, aber sehr wohl ein großes Maß an Menschlichkeit. Denn nur
Menschlichkeit vermag menschliche Verhältnisse zu schaffen und zu
bewahren. Und gerade sie ist in unserer Welt zu allen Zeiten
Mangelware. Deshalb kommt Gott nicht als Gott, sondern als Mensch
zur Welt, damit wir menschlich werden.
An Weihnachten feiern wir „die Wiederkehr des Glanzes in die Welt“
(G. Gestrich). Es ist nicht unser Glanz, sondern der Glanz der Gnade
Gottes. Wir dürfen uns in diesem Licht als wahre Menschen wieder
finden. Kinder Gottes, die er losmacht von allem, was sie binden und
halten will. Damit wir unser Leben nicht versäumen, sondern fromme
Menschen werden, die wieder die Segel ihrer Hoffnung setzen und
mutig hinausfahren in der Freiheit der Kinder Gottes – für eine
menschliche Welt.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
11 Denn es ist erschienen die heilsame Gnade
Gottes allen Menschen
12 und nimmt uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen
und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in
dieser Welt leben
13 und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der
Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus,
14 der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von
aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum
Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.
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