Liebe Leser,
„Die ‚Menschenfreundlichkeit Gottes‘ - nur dieses einzige Mal kommt
die Begriffskombination im Neuen Testament vor“, schreibt ein
Regionalbischof aus dem hohen Norden zu unserem Predigttext und
weiter: „Für mich verbindet sie sich zugleich mit einer Gemeinde
meines Kirchenkreises, die in ihrem Leitbild formuliert hat, sie
wolle „die Menschenfreundlichkeit Gottes verkündigen". Leider ist es
die Gemeinde, in der die Menschen am wenigsten freundlich
miteinander umgehen. Die Atmosphäre, zumindest im inneren Kern, ist
vergiftet. Dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit
beschäftigt mich schon lange. Ist er zufällig oder symptomatisch?
Und nun entdecke ich diesen Widerspruch auch in den Pastoralbriefen.
Obwohl dort gerade auch vom Gemeindeleiter Sanftmut gefordert wird,
sind die Pastoralbriefe, die als Anweisungen für die Gemeindeleiter
Timotheus und Titus geschrieben sind, voll von ätzender Gehässigkeit
und polemischen Keulen gegenüber abweichenden Meinungen, gekleidet
in fromme Worte. Der Flor depressiver Sanftheit, mit dem oft genug
in der Kirchengeschichte Andersdenkende aggressiv verfolgt wurden,
scheint hier seine biblische Grundlegung zu erfahren.“ (Horst Gorski,
GPM, Heft 1, 4/2009, S. 40)
Damals wie heute steht besonders die Kirche im Hemd da, wenn sich
die Botschaft und das eigene Handeln so drastisch widersprechen und
deutlich wird, dass die Kirche bis heute nach der Form sucht, die
ihrer Botschaft entspricht. Die Slogans, Leitbilder und Sinnsprüche,
mit denen sich Kirche in den Medien präsentiert sind das eine. „Ich
kann auch anders“, sagt der Vorgesetzte zum Mitarbeiter unter dem
Deckmantel der Verschwiegenheit. Und anders hat es die Kirche in den
letzten Jahren auch bei uns versucht: Wirtschaftliche
Organisationstheorie, Umstrukturierung, Personaloptimierung, mediale
Aufmerksamkeit, Agendasetting. Depressive Sanftheit und
unerbittliche Milde nach außen, zwanghaft-autoritär oder
narzistisch-aggresiv nach innen.
Dieser Tage erreichte mich der Brief einer lange Jahre engagierten
Kirchenvorsteherin, die zu ihrem Kirchenaustritt schreibt: „Ich bin
und bleibe evangelischer lutherischer Christ und vor allem
Protestant - aber nun ohne Zugehörigkeit zu dieser Landeskirche! Mit
dieser Kirchenleitung der Evang.-Luth. Landeskirche in Bayern, die
sich nicht anders verhält als die Politik, möchte ich nichts mehr zu
tun haben und trete hiermit aus! So kann eine Kirchenleitung nicht
mit den ihr anvertrauten Menschen umgehen und um im Bild zu bleiben:
So ginge niemals ein Hirte mit seiner Herde um! Wohl wissend, dass
es in München niemand stört, wenn ich als kleines Rädchen im großen
Getriebe der Bayer. Landeskirche aus dieser Kirche austrete, tue ich
es doch mit der Gewissheit, dass ich mich nun nicht mehr ärgern muss
über die Dinge, die nun hier so ganz anders laufen. Es scheint nur
noch um die Wirtschaftlichkeit zu gehen.“
Traurig, wenn die Kirche in den Augen vieler so heruntergekommen
ist, und mit ihr auch wir. Und vielleicht fühlt sich mancher gerade
an Weihnachten genau so: Heruntergekommen, ausgebrannt und leer.
Vielleicht fühlen wir gerade an Weihnachten, wie anstrengend schon
ein bisschen Freundlichkeit und Menschenliebe fallen kann. Welt ging
verloren, dagegen kommt man nicht an, nicht einmal in der Kirche,
auch nicht an Weihnachten. Und schlimmer: Der Reformstau in Kirche,
Politik und Gesellschaft ist ein Klacks gegen den Reformstau in
unseren Herzen. Was sollen wir da noch machen, tun und versuchen?
An Weihnachten gar nichts. Denn an Weihnachten heißt die Devise:
Aufhören! Aufhören im doppelten Sinn des Wortes: Mit etwas aufhören
und auf etwas hören. Aufhören. Denn es ist erschienen die
Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes.
Wissen Sie, wo auf ihrer Fernbedienung der Knopf für „Aus“ ist? Es
ist heute längst nicht mehr selbstverständlich, dass der Fernseher
abgedreht wird, wenn Besuch kommt. Würde es Ihnen Freude machen, die
Aufmerksamkeit ihres Gegenübers mit einer Glotze zu teilen? Na,
bitte! Aber die Weihnachtsbotschaft soll sich alles gefallen lassen?
Aufhören, abschalten. Denn es ist erschienen die Freundlichkeit und
Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes. Das ist so unerhört, dass,
wenigstens in der stillen, heiligen Nacht, die Stimmen um uns her
schweigen sollen.
Und die Stimmen in uns schweigen dürfen, die vorwurfsvollen, die
sorgenvollen, die jammervollen, die klagevollen, die schmerzvollen.
Für die gibt es leider keinen Knopf auf der Fernbedienung. Und je
mehr man sie verdrängt, desto stärker kommen sie wieder. Da muss
schon von außen etwas geschehen, was größer und stärker ist.
Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes,
unseres Heilandes, machte er uns selig nach seiner Barmherzigkeit.
Mir fällt ein, wie wir Kinder uns die Nasen an der Nörpelglastür zum
Wohnzimmer plattgedrückt haben, durch die man nichts erkennen
konnte. Nur ein gebrochener Lichtpunkt da und dort noch einer, wenn
die Eltern im Zimmer die Kerzen am Baum anzündeten. Wie die
Weihnachtsfreude uns an- und überfiel, wenn die Tür endlich geöffnet
wurde und all unsere Kindersorgen wegwischte, wie ein Schwamm die
falschen Worte auf unseren Schiefertafeln.
Haben wir es nicht alle erlebt, jeder ein wenig anders, früher oder
später, nicht nur an Weihnachten, wie da, wo wir am Ende waren und
voll Sorgen uns Glaube und Hoffnung an- und überfiel, aus heiterem
Himmel, im Spüren einer helfenden Hand, im liebevollen Augen-Blick
eines anderen Menschen, beim Hören und Lesen eines befreienden
Worts?
Wie begabt zum Unglücklichsein sind wir doch, wenn wir’s dann fertig
bringen, aus der Feststellung eine Frage zu machen: Machte ER uns
selig nach seiner Barmherzigkeit? Ist dem Überfall der
Weihnachtsfreude aufs sorgenschwere Gemüt, dem plötzlichen Anfall
von Glauben und Hoffnung zu trauen? Wer so fragt, ist wahrscheinlich
ein Mensch, der sich nach jedem Witz erst einmal fragt, ob er lachen
soll.
Natürlich ist dir erschienen die Freundlichkeit und Menschenliebe
Gottes unseres Heilandes, der machte dich selig nach seiner
Barmherzigkeit. Der hat wie mit einem Schwamm die falschen Sorgen
und deine überschätzte Angst weggewischt von der Schiefertafel
deines Herzens. Das konntest Du nicht. Das war heiliger Geist,
reichlich über dich ausgegossen. Welt ging verloren, wie wahr! Und
nur der Christus allein kann dieses Lied weiterschreiben. Welt ging
verloren, Christ ist geboren. Die Freude der Christenheit kann nur
von ihm kommen.
O du fröhliche! Schon ein seltsames Gefühl, wenn dann im Halbdunkel
neben uns einer steht und aus vollem Halse mitsingt, obwohl er sonst
nie singt; und vielleicht laufen Tränen über sein Gesicht, obwohl er
sonst nie weint. Irgendwann habe ich einmal begriffen, dass das
nicht irgend ein Lied ist. Und dass dieses „Freue dich o
Christenheit“ nicht der neben mir singt, sondern ein Engel der
Weihnacht und ich mitzusingen habe, weil der neben mir auch einen
Engel braucht, der ihm sagt: Fürchte dich nicht. Freue dich. Und so
stehn wir da, - keine Engel gewiss und doch, wie Paulus sagt, Erben
des ewigen Lebens, - und können uns an unsere gewaltigen Sorgen
nicht mehr erinnern. Das ist ein Fest!
Und dann spüren wir, dass wir gar nicht so heruntergekommen sind,
wie wir meinen. Es ist der Christus, der heruntergekommen ist zur
Welt an Weihnachten. Und deshalb wollen wir an Weihnachten nichts
wissen von der Unfreundlichkeit, dem Hass, der Gewalttätigkeit und
Gleichgültigkeit des Menschen und alles von der Freundlichkeit und
Menschenliebe Gottes. Nichts von unseren Sorgen und Problemen und
alles von der Kraft unseres Heilands. Deshalb wollen wir uns die
Augen nicht zuschaufeln mit der Asche der Zerstreuungsindustrie,
sondern bitten, dass die Klarheit des Herrn um uns leuchtet. Dass
sie uns an- und überfällt. Bis ins Herz.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
4 Als aber erschien die Freundlichkeit und
Menschenliebe Gottes, unseres Heilands,
5 machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen,
die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das
Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist,
6 den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus,
unsern Heiland,
7 damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen
Lebens würden nach unsrer Hoffnung.
8 Das ist gewisslich wahr.
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