Liebe Leser, aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert stammt ein
Buch, das in den meisten Bibeln nicht enthalten ist: Die Weisheit
Salomos. Es gehört zu den so genannten Apokryphen, einer Reihe von
jüdischen Schriften, die nicht in das Alte Testament aufgenommen
wurden. In vielen Bibeln sind sie als Anhang zum Alten Testament
enthalten.
In früheren Zeiten hat man gern in ihnen gelesen. Einzelne
Abschnitte erfreuten sich großer Beliebtheit. So auch der folgende
Abschnitt aus Weisheit 3,1–5: „Aber die Seelen der Gerechten sind in
Gottes Hand, und keine Qual rührt sie an. In den Augen der
Unverständigen gelten sie als tot, und ihr Abscheiden wird für
Strafe gehalten und ihr Weggehen von uns für Verderben; aber sie
sind im Frieden.” Wer kann sich so ohne weiteres der Schönheit und
Eindringlichkeit dieser Worte entziehen? Wen rührten sie nicht an –
zumal wenn er dem Tod hautnah begegnet ist, wenn es ihm also nicht
um ein paar Gedankenspielereien geht, sondern um die Verarbeitung
von Schmerz, Trauer und Angst.
„Sie sind im Frieden” – wie einfach ist das gesagt, und doch ist
alles gesagt! Nichts wird sie mehr quälen. Nicht äußerer Schmerz,
nicht Hunger, nicht Krankheit und Siechtum. Nicht die Last, jeden
Tag neu kämpfen zu müssen und immer neu Niederlagen zu erleben zu
müssen. Nicht die innere Qual, das hergeben zu müssen, was einem
lieb und teuer ist. Nicht die fortwährende und immer neu enttäuschte
Suche nach erfüllender Liebe. Nicht das Buhlen um ein wenig
Anerkennung. Kein Streit mehr, keine Wunden, keine Selbstvorwürfe
und kein Selbsthass, nicht die lähmenden Gefühle von Schuld und
Versagen. “…keine Qual rührt sie an ... sie sind im Frieden."
In einem Frieden freilich, der etwas anderes ist als Friedhofsruhe.
Geborgen im Frieden Gottes - das sollten wir nicht missverstehen als
eine schönfärberische Floskel für den Tod, den wir uns auf diese
Weise in seiner natürlichen Brutalität vom Leibe halten. Die Seelen
der Gerechten sind in Gottes Hand – dies Bildwort steht für eine
Wirklichkeit, die man anders als in poetischen Bildern nicht
ausdrücken kann, weil sie sich gegenwärtiger Erfahrbarkeit entzieht.
Aber sie meint höchste Intensität, höchste Lebendigkeit, höchste
Erfüllung.
Marie Luise Kaschnitz hat in einem Gedicht in modernen poetischen
Bildern von dieser Welt Gottes gesprochen. Keine Heiligen auf
Goldstühlen, keine Engel in goldenen Mänteln, kein Endgericht
vermutet sie dort, also nichts von den Dingen, mit denen man früher
den Himmel ausmalte und ausstaffierte. Was aber dann? Wo man einen
grandiosen Ausblick in die kommende Herrlichkeit des Himmels
erwarten könnte, springt die Dichterin plötzlich zurück in ihre
eigene Vergangenheit. Aus ihrer eigenen Lebensgeschichte holt sie
sich die Bilder und Wörter, die das Unsagbare ansagen sollen. Es
sind Erinnerungsfetzen gleichsam, Bruchstücke vergangenen Glücks und
höchster Erfüllung. Was sie vom Frieden in der Hand Gottes erwartet,
kann sie nur mit den allerpersönlichsten und schönsten Erinnerungen
ihres Lebens ausdrücken:
„Schmerzweh mit Tränen besetzt
Berg- und Talfahrt
Und deine Hand
Wieder in meiner
So lagen wir lasest du vor
Schlief ich ein
Wachte auf
Schlief ein
Wache auf
Deine Stimme empfängt mich
Entlässt mich und immer
So fort ...
Mehr also, fragen die Frager
Erwarten Sie nicht nach dem Tode? ...
Und ich antworte
Weniger nicht.”
Es gibt wenig Menschen, die heute so reden. Es gibt wenig Menschen,
die sich einen Blick über dieses Leben hinaus gestatten. Peter Noll,
ein vor Jahren berühmter Strafrechtsprofessor, enger Freund des
Dichters Max Frisch, hat sich während seiner zehnmonatigen
Leidensgeschichte als unheilbar Krebskranker intensiv mit dem Tod
beschäftigt. Er schreibt lakonisch über unsere Zeit: „Unter den
intelligenteren Menschen, die nicht von Berufs wegen eine religiöse
Institution vertreten müssen, herrscht allgemeine Übereinstimmung
darüber, dass es außer dem Leben nichts gibt. Der Tod ist sinnlos,
das Wissen darum eine unnötige Belastung“ (Diktate über Sterben und
Tod). So halten es in der Tat die meisten Menschen heute: Nur nicht
dran denken! Alles vermeiden, was an Tod erinnern könnte!
Stattdessen kühle Stilisierung angeblicher Lebensfreude, Coolness
als Hohlraumversiegelung für das Ego. Und wenn der Tod dann kommt,
herrscht panische Hilflosigkeit.
Aber auch unter evangelischen Theologen sieht es kaum besser aus.
Sie haben zwar - wie viele andere auch - in den letzten Jahrzehnten
das Thema Tod wieder entdeckt, sie wollen ihn nicht länger
tabuisieren; aber das geschieht doch in einer ganz bestimmten
Richtung. Man erinnert an den Tod, damit das Leben besser gelingt.
Man will an die Endlichkeit des Lebens erinnern, damit die Menschen
bewusster leben, ihre Zeit nicht nutzlos vertun. Man möchte Hilfe
geben, damit die Erfahrung von Trauer besser verarbeitet werden
kann. Man möchte Sterbenden beistehen. Das ist alles sehr bedeutsam
und wichtig. Nur eines bleibt merkwürdig ausgespart: Eine Hoffnung
über den Tod hinaus wird kaum ausgesprochen. So stellt der
Theologieprofessor Eberhard Jüngel fest: „Die christliche Hoffnung
auf ein Leben in Gottes kommendem Reich hat sich zum bloßen
Interesse an einem Leben vor dem Tod ermäßigt.“
Auferstehung, ewiges Leben - was einmal in der Mitte unseres
Glaubensbekenntnisses Platz hatte, ist an den Rand gerückt. Und wenn
denn von der Zukunft des Reiches Gottes die Rede ist, dann mehr in
ganz diesseitiger Ausrichtung: im Sinne eines kommenden
Friedensreiches und einer veränderten Welt der Gerechtigkeit. Auch
dies hat natürlich sein Recht. Aber es ist nicht gut, wenn darüber
die Hoffnung auf ein persönliches, individuelles Sein in der Hand
Gottes vergessen wird. Noch einmal Peter Noll: „Dennoch bleiben
diese drei Fragen: die Frage nach dem Sinn, die Frage nach dem Tod,
die Frage nach Gott. Manche sagen, die Fragen stellen sich gar
nicht, und dabei machen sie sich etwas vor, sind auch unlogisch,
denn eine Frage, die unbeantwortbar ist, bleibt dennoch gestellt.
Und es zeigt sich ja, dass alle sie stellen.”
Warum schweigen hier so viele Theologen? Warum wiederholen sie
bestenfalls die konventionellen, überkommenen Formeln, die keiner
ihnen recht abnimmt? Warum an dieser Stelle keine Leidenschaft des
Nachdenkens und Suchens? Einer der Gründe liegt sicherlich darin,
dass den Theologen immer noch der Vorwurf in den Knochen steckt, der
seit dem 19. Jahrhundert im Raum steht und seither bei keinem
Religionskritiker fehlen darf. Der Vorwurf lautet: Sie vertrösten
die Menschen auf ein Jenseits und überlassen das Diesseits den
Herren dieser Welt. So haben Marx und Engels argumentiert und viele
Nachfolger gefunden. Hier haben in der Tat die Kirchen eine Lektion
lernen müssen, und das ist inzwischen sehr gründlich geschehen.
Ähnlich klang der Vorwurf Friedrich Nietzsches, der die Christen
ironisch als „Hinterweltler” bezeichnete: Sie blieben nicht der Erde
treu, sondern seien auf eine Welt „hinter dieser Welt” ausgerichtet.
Es scheint fast so, als wäre inzwischen Nietzsche zum Lehrmeister
unserer Zeit geworden. Es gibt keine andere Welt als die, in der wir
leben: keine Auferstehung, kein ewiges Leben, keinen Gott. Denn wer
keine andere Wirklichkeit mehr kennen will als die, die vor Augen
liegt, der kann auch nicht mehr von Gott reden. Und so gilt denn,
was schon in der Weisheit Salomons merkwürdig modern angesprochen
wird: „In den Augen der Unverständigen gelten sie als tot, und ihr
Abscheiden wird für Strafe gehalten und ihr Weggehen von uns für
Verderben...“ Unverständig werden wir hier gescholten, wenn wir so
denken. Und es ist wohl richtig so. Zu deutlich sind im vergangenen
Jahrhundert die Folgen menschlichen Größenwahns geworden. Aber wo
endet der Mensch, der der Erde verhaftet bleibt und sich
folgerichtig an die Stelle Gottes setzt? „Der Verlust
Gottes…hinterlässt eine unendliche Leere, die die unendliche Gier
ausfüllt“, sagt L. Schottroff und sieht in der Befreiung von der
unendlichen Gier eine elementare Gotteserfahrung.
So muss man heute fragen, ob nicht längst an die Stelle der
Jenseitsvertröstung eine viel schlimmere Diesseitsvergötzung
getreten ist, die die Menschen blendet und in entscheidenden
Lebenssituationen hilflos und einsam ihrer Angst überlässt? Das
erklärt sicherlich auch, warum viele Menschen nach Ersatztröstern
Ausschau halten – wo und wie auch immer! Und es erklärt – so P.
Sloterdijk - warum der Bedarf an unverbrauchten Selbstbetrugsformeln
für die wirtschaftlichen und politischen Eliten exponentiell steigt.
Es ist an der Zeit, dass wir wieder lernen, diese Welt und dieses
Leben in seinen Grenzen anzunehmen. Wir müssen auch unseren Verstand
und unsere Sinne in ihren Grenzen erkennen. Alles, was wir
wahrnehmen und begreifen, ist gebunden an die Funktionen unseres
Gehirns. Und dieses Gehirn ist selbst ein Stück Schöpfung, begrenzt
und endlich in seinen Leistungen. Wie ist nur der Mensch darauf
gekommen, sein Gehirn wäre gleichsam der Angelpunkt, von dem aus
sich die Geheimnisse des Kosmos, die Geheimnisse Gottes enträtseln
ließen? Dazu sind wir nicht geschaffen.
Es wäre wahrhaftiger, sich die Grenzen bewusst zu machen und einfach
zu sagen: Wir finden uns immer schon vor in einer Welt, die wir
nicht geschaffen haben, in einem Kosmos, den wir nicht fassen. Es
gibt diese unser Dasein umgreifende Macht, die Gott heißt. Und wer
nicht von Gott reden will, der sollte wenigstens schweigen. Dann
hätte der Unverstand ein Ende, von dem in unserem Abschnitt geredet
wird.
Es gibt aber nicht nur die Logik unseres Verstandes, sondern auch
die Logik unseres Herzens, von der B. Pascal geredet hat. Sie sagt
uns, dass es wahr ist und dass es allein uns Menschen hilft, was in
der Bibel gesagt wird: Dass da ein Gott ist, in dessen Hand unser
Leben sein Ziel findet: „Aber die Seelen der Gerechten sind in
Gottes Hand, und keine Qual rührt sie an.”
Die Seelen der Gerechten – gehören unsere Verstorbenen auch dazu?
Und: Werden wir einst zu den Gerechten gezählt werden? Nun, sicher
nicht „automatisch“. Erst müssen wir alle offenbar werden vor dem
Richterstuhl Christi. Aber weil es der Richterstuhl CHRISTI ist,
dürfen wir auch im Sterben auf ihn zählen. Wir dürfen es nicht weil
wir die Gerechten wären, sondern weil er unser Vater im Himmel uns
um Jesu Christi willen gerecht macht.
Darum ist aller Trost mit dem Namen Jesu Christi verbunden. Um
seinetwillen hoffen wir einst auf Gerechtsprechung. Um seinetwillen
stimmen wir ein in die große Verheißung, die der Apostel Paulus in
die Worte fasste: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir,
so sterben wir dem Herrn. Darum gilt: Ob wir leben oder sterben, wir
gehören dem Herrn.”
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text:
1 Aber die Seelen der Gerechten sind
in Gottes Hand, und keine Qual rührt sie an.
2 In den Augen der Unverständigen gelten sie als tot, und ihr
Abscheiden wird für Strafe gehalten
3 und ihr Weggehen von uns für Verderben; aber sie sind im Frieden.
4 Denn wenn sie auch nach Meinung der Menschen viel zu leiden haben,
so sind sie doch erfüllt von Hoffnung auf Unsterblichkeit.
5 Sie werden ein wenig gezüchtigt, aber viel Gutes wird ihnen
widerfahren; denn Gott versucht sie und findet sie seiner wert.
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