Liebe Leser,
mit der Bibel lässt sich anscheinend alles belegen, begründen und
beweisen. Wer von Ihnen z.B. einmal einen Zeugen Jehovas an der Tür
hatte, hat schon einen Einblick in diese Kunst genommen. Bibel vorne
auf, ein Satz, Bibel hinten auf, zwei Sätze und in der Mitte steht
noch dies und das. So wird ein Verschen nach dem anderen aus dem
Zusammenhang gerissen und dem verdutzten Gegenüber freundlich an den
Kopf geworfen. Der kann sich oft nicht wehren, nicht nur weil er als
evangelischer Christ seine Bibel leider sehr schlecht kennt, sondern
weil das oft auch gar nicht so schlecht klingt.
Mein Rat: Ergreifen sie getrost die Flucht. Machen Sie die Haustüre
zu, wenn der Eindruck entsteht, dass die Bibel nicht gelesen sondern
gebraucht wird um die eigene Ideologie heilig zu sprechen.
Unser heutiger Predigttext lädt in geradezu gefährlicher Weise eben
dazu ein. Etwa den, der schon lange nichts mehr mit den alten
Kirchenliedern und mit traditionellen Gottesdienstformen anzufangen
weiß. Weg damit! Bei Amos steht’s geschrieben.
Schade, dass heute all die wieder nicht da sind, die sonst auch
nicht in die Kirche gehen. Müssten sie nicht in spontanen Beifall
ausbrechen, weil sie endlich ihre Bibelstelle gefunden hätten? Was
für ein vernichtendes Urteil über all die, die Sonntag für Sonntag,
Feiertag für Feiertag in der Kirchenbank sitzen. Anständig leben,
statt in die Kirche rennen! Darauf kommt’s an. Bei Amos steht’s
geschrieben!
Auf dem richtigen Weg und doch daneben scheint schließlich ein
Ausleger zu liegen, der schreibt, Amos würde heute wahrscheinlich
nicht gegen den Gottesdienst der Gemeinde wettern, sondern gegen das
einseitige politische und soziale Engagement gewisser kirchlicher
Gruppen und Kreise. Würde der Amos, oder würde der Ausleger gern?
Für sein kirchenpolitisches Anliegen wird sich doch eine passende
Bibelstelle finden lassen!
Zugegeben, die Versuchung ist groß, sich aus der Bibel
herauszupicken, was die eigene Überzeugung heiligt. Die gepfefferten
Worte des Amos sind schnell in die Hand genommen und dem anderen an
den Kopf geworfen. Aber dafür taugt Gottes Wort nicht. Kein
einziges! Wo die Heilige Schrift so gebraucht wird, wächst nichts
Gutes, sondern die Spaltung unter den Christen.
Und die haben wir ja auch bei uns schon genug, zwischen
Evangelikalen und Volkskirchlichen, zwischen Pietisten und sozial
Engagierten, zwischen denen, denen es vor allem um das Heil der
Seele geht und denen, den es vor allem um heile Lebensverhältnisse
in Schöpfung und Gesellschaft geht. Und die Tragik an diesem Streit
ist nicht, dass die einen oder die anderen die Wahrheit hätten.
Beide haben ihren Teil der Wahrheit, aber leider sind sie auf beiden
Augen nicht gleich blind.
Die partielle Blindheit, die unter Christen so ungleich auf beide
Augen verteilt ist und in oft erschreckender Weise das wichtigste
Auge, das Herz betrifft, ist ein Grundproblem der Christenheit. Und
gegen diese Blindheit redet der Prophet Amos leidenschaftlich an. Um
der Zukunft des Gottesvolkes willen, über dem sich dunkle Wolken
zusammenbrauen: Die babylonische Gefangenschaft und die endgültige
Zerstreuung. Gefahr ist im Verzug und dafür möchte der Prophet
seinem Volk, das heute noch im Wohlstand und im Reichtum seines
geistlichen Lebens steht, beide Augen aufreißen und vor allem das
Herz.
Und dazu bringt er Botschaft von dem Gott, der keinen Gottesdienst
will, ohne das vor und nach dem Gottesdienst Gerechtigkeit geschieht
im Alltag, am Arbeitsplatz, in der Partei, in der Gesellschaft. Das
ist der Wille des Gottes, der umgekehrt kein Streben nach
Gerechtigkeit will ohne Gottesdienst, ohne dass Gott die Ehre
gegeben wird. Gott will, dass zusammenbleibt, was zusammengehört:
Herz und Hand, Denken und Tun, Glauben und Leben, das Heil der Seele
und die Sorge für heile Verhältnisse in Schöpfung und Gesellschaft.
Das eine ohne das andere stinkt zum Himmel. In seiner langen
Geschichte krankt das Gottesvolk immer wieder an der fehlenden
Einheit der Gläubigen und an der fehlenden Ganzheit des Glaubens.
Einheit der Gläubigen! Weil wir zu einem Gott beten und zu einem
Herrn Jesus Christus. Weil wir sein Wort hören und lesen in der
einen Heiligen Schrift. Weil wir um denselben Tisch versammelt sind,
wo immer wir das Abendmahl feiern. Weil es nur ein Himmelreich gibt,
in dem wir, so Gott will, einmal um einen Tisch sitzen werden.
Und das gilt auch für die, die sich auf dieser Welt nicht an einen
Tisch setzen wollen. Die blind dafür geworden sind, dass das Wort
Gottes nicht taugt um die Grenzzäune unserer Prägungen, Meinungen
und Überzeugungen zu pflegen. Gottes Wort reißt sie nieder und
sammelt aus allen Ländern, Kulturen und Hautfarben die eine heilige
christliche Kirche. Reiche und Arme, Mächtige und Ohnmächtige,
Erfolgreiche und Erfolglose, Unbeschwerte und Belastete, Freie und
Abhängige.
Ein bunter Haufen ist die Christenheit und Licht und Schatten, Glück
und Unglück sind auch unter Christen ungleich verteilt. Das ist die
große Herausforderung an die Ganzheit unseres Glaubens, der nicht
nur die Seele sondern auch unsere Lebensverhältnisse heil machen
will. Die soziale Frage als Herausforderung für die Ganzheit des
Glaubens ist ein großes Thema des Propheten Amos. Er hat sich damit
weder in der Kirche noch bei den Politikern seiner Zeit beliebt
gemacht. Würde er sich heute beliebter machen? – Bei einer Kirche
zumal, die sich – wie zu Amos Zeiten - im Zweifelsfall doch lieber
in der Gesellschaft der politisch Bedeutenden und wirtschaftlich
Starken, der Macher und der Reichen sonnt, statt den Staub der
Ohnmacht in der Gesellschaft der Bedeutungslosen zu atmen.
Heute ist die Stimmung längst wieder umgeschlagen zugunsten derer,
die behaupten, wir hätten zuviel soziale Gerechtigkeit und das
soziale Netz sei für viele längst nicht mehr letzte Rettung, sondern
bequeme Hängematte. Die, die solches vertreten, gehören näher
betrachtet zu denen, die nun wirklich keine Hilfe nötig haben. Wer
auf die Schnauze fällt, hat auch heute keine Lobby und manche
schämen sich vor dem Gang zum Sozialamt. Sich nicht selbst helfen
können, ist das Letzte, sagt die gnadenlose Moral der sozialen
Kälte.
Das Wort Gottes sagt etwas anderes. Sich nicht selbst helfen können,
ist der Anfangs- und Endzustand unseres Lebens. Aber auch wenn uns
dieser Zustand mitten im Leben ereilt, sind wir nicht verlassen.
Gott schaut unserer Hilflosigkeit nicht zu und hat Besseres zu tun,
als sie zu verachten und zu kritisieren. Er hilft unserer
Schwachheit auf (Rm 8/26). Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und
den glimmenden Docht löscht er nicht aus (Jes 42/3). Der Christus
kommt zur Welt um zu suchen und selig zu machen, was verloren ist
(Lk 19/10).
Und da reicht es nicht, wenn wir Gott dafür Halleluja singen.
Ganzheit des Glaubens fordert ein Handeln, das an Gottes Handeln
maßnimmt. Unsere Hände können und sollen mehr, als gefaltet für die
Ohnmächtigen und Hilflosen zu beten. Die Seele, die sich im
Gottesdienst erhebt, soll ihre Kraft in die Niederungen unserer Welt
tragen. Wer in die Tiefe der Seele hinabsteigt und dort Gott findet,
wird hören, wie Gott ihn wieder in die Welt schickt, um von Gott zu
predigen und mit Gott zu wirken. Kirche ist nicht Sonderwelt,
sondern der Welt beste, hilfreiche und verständnisvolle Freundin und
Schwester oder sie hört auf christliche Kirche zu sein.
Um der Zukunft der Kirche willen, muss unter uns deshalb die Einheit
der Gläubigen und die Ganzheit unseres Glaubens Thema sein. Das Heil
der Seele und die Sorge um heile Lebensverhältnisse gehören
zusammen. Daran erinnert uns der Prophet Amos. Das ist Gelegenheit
für jeden von uns, seine eigene Balance und die unserer Gemeinde und
Kirche zu überprüfen und neu zu finden. Hat unser Glauben noch etwas
mit unserem Leben zu tun und unser Leben mit dem Glauben? Wer hat da
gleich eine Antwort?
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
So spricht der Herr:
21 Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure
Versammlungen nicht riechen.
22 Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe
ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht
ansehen.
23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein
Harfenspiel nicht hören!
24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein
nie versiegender Bach.
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