Liebe Leser,
richtig gute Werbespots vergisst man nicht. Vielleicht erinnern Sie
sich noch an den, in dem ein werdender Vater durch die Gänge des
Krankenhauses rennt, der Säuglingsstation entgegen, um endlich mit
seligem Blick seinen frischgeborenen Sohn in den Arm zu nehmen: Mein
Sohn, stammelt er, mein Stolz, mein Stammhalter, meine
Altersversorgung. Und beim letzten Wort streckt der Säugling dem
verklärten Vater die Zunge raus und zeigt ihm den Vogel. Groß sind
die Hoffnungen und Erwartungen, die so ein kleines Bündel Mensch in
uns weckt. Und nicht alle gehen in Erfüllung und das ist manchmal
auch gut so.
In einer ganz ähnlichen Situation sind die Worte unseres heutigen
Predigttextes gesprochen oder vielleicht auch gesungen worden. Der
gegen alle Hoffnung im Alter noch Vater gewordene Zacharias hält ein
kleines Bündel Mensch auf dem Arm. Es ist einige Monate vor Jesus
von Nazareth zur Welt gekommen und wird später aller Welt bekannt
werden als Johannes der Täufer. Ein Prediger und Wegbereiter des
Christus wird er sein. König Herodes wird auf einer Geburtstagsfeier
seinen Kopf seiner Stieftochter zum Geschenk machen müssen, als Dank
für eine gelungene Tanzeinlage (Markus 6/14 ff.). Dahinter steckte
freilich nicht die Stieftochter, sondern die Mutter, deren Ehe mit
Herodes Johannes offen kritisiert hatte, war sie doch schon die Frau
des Bruders von Herodes gewesen. Propheten, die kein Blatt vor den
Mund nehmen und ihren Mitmenschen die Wahrheit nicht schuldig
bleiben, leben zu allen Zeiten gefährlich. Aber auch durch diesen
Mord kann Johannes dem Täufer sein Platz in der Heilsgeschichte
Gottes nicht streitig gemacht werden. Er geht in sie ein als der
Wegbereiter des Christus und die Frau des Herodes als hinterhältige
Schlampe.
Es ist deshalb kein Wunder, dass am Kinderbettchen des Johannes,
nicht zuerst die seligen Hoffnungen und Erwartungen frisch
gebackener Eltern erklingen, sondern die Heilsgeschichte Gottes von
den Anfängen des Gottesvolkes Israel bis zur Geburt des Herrn und
dem kommenden Himmelreich, das er verkündigen wird. Nicht das süße
Kindergesicht erhellt die Zukunft, sondern die „Macht des Heils“
strahlt in diesem Gesichtchen auf. Nicht dem Anfang wohnt der Zauber
inne, sondern dem Besuch der herzlichen Barmherzigkeit Gottes, der
war und ist und kommt.
Es ist schon ein seltsames Lied auf die Zukunft, weil es nicht ohne
die Erinnerung an das ganz Alte und Vergangene auskommt und
auskommen will. Wenn wir die neuen Geschenke an Weihnachten
ausgepackt haben, fliegen die alten auf den Müll, wenn sie nicht
längst dort gelandet sind. Wir leben in einer Welt, die geradezu
gierig nach dem Neusten schreit. Nichts ist so alt, wie die Zeitung
von gestern. Und schon unsere Kinder werden im Schweinsgalopp von
einer Mode zur anderen getrieben, dass den Eltern die Luft und das
Geld wegbleibt. Was neu ist, ist gut; was alt ist, ist schlecht. Nur
nicht von gestern sein, nur nicht veralten, heißt darum die große
Angst des modernen Menschen.
Und da könnte deshalb auch heute, wo wir die alten Kirchenvorsteher
und Kirchenvorsteherinnen verabschieden und die neuen in ihr Amt
einführen, der Eindruck entstehen, dass die einen den Hut nehmen,
von der Bühne abtreten, zum alten Eisen gehören, verschwinden in den
Archiven der Gemeindechronik und auf dem Müllhaufen der Geschichte
landen, und die neuen die Ärmel hochkrempeln, ins Rampenlicht
treten, Hoffnungsträger werden, als Sterne aufgehen am
Gemeindehimmel.
Ich hätte mir gar keinen besseren Text ausdenken können, als den für
heute sowieso vorgegebenen, um genau diesem Eindruck zu wehren. Denn
er stellt mit dem Lied des Zacharias das Kommen und Gehen unserer
Mitarbeiter nicht in unsere moderne Befindlichkeit der Gier nach dem
immer Neuen und der Verachtung des Alten, sondern in den Horizont
der Heilstaten Gottes. Er stellt die, die kommen und die, die gehen
vor die Kulisse der Jahrtausende langen Geschichte der Treue Gottes
mit seinem Volk Israel, die mit der Weihnachtsgeschichte durch den
Christus eine Geschichte der Treue Gottes mit allen Menschen wird.
Und insofern uns in dieser Geschichte niemand anderes als der
Schöpfer dieser Welt begegnet, dürfen wir diese Geschichtskulisse
ruhig um ein paar Milliarden Jahre erweitern.
Und da merken wir schon, wie eitel und eingebildet unser Gerede von
dem Alten und Neuen ist. Wie gegenstandslos der ewige Streit
zwischen den sogenannten Konservativen und Progressiven ist. Als
wäre das Konservative automatisch alt und das Progressive
automatisch neu. Als gäbe es immer Neues unter der Sonne. Als wäre
jedes Wort nicht schon einmal gesagt, jede Lust, jeder Schmerz nicht
schon einmal gefühlt, jede Lebensgeschichte nicht schon einmal
gelebt! Wir mögen als Mensch unverwechselbar und einzigartig sein.
Unser Leben, Denken, Fühlen und Tun ist es nicht.
Gottes Güte ist alle Morgen neu! Gestern, heute und morgen! Davon
singt das Lied des Zacharias. Und nur, wenn wir uns im Glauben immer
wieder daran erinnern, werden wir den Weg in unsere Zukunft finden.
Nur wenn wir von der Güte Gottes leben, die jeden Morgen neu ist,
werden wir die Kraft und die Hoffnung finden, jeden Tag „aufs Neue“
zu tun, zu denken und zu sagen, was notwendig ist. Unser Glaube
wurzelt in den Erfahrungen und Geschichten der Treue Gottes und
wächst so dem Himmelreich entgegen.
Und deshalb wünsche ich den neuen Kirchenvorsteherinnen und
Kirchenvorstehern, dass sie nicht einem blinden Aktionismus
hinterher rennen, der sich auf der wilden Jagd nach dem immer Neuen
schließlich zwangsläufig bis zur Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit
verbraucht. Ich wünsche ihnen und uns, dass wir als Glaubende
erzkonservativ bleiben in der Erinnerung an den Gott, der sein Volk
Israel besucht und erlöst hat in den Zeiten der Knechtschaft, der
sein Licht aufstrahlen ließ in der Weihnacht, der auch über uns sein
Licht aus der Höhe aufscheinen lässt, damit es erscheine denen, die
sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße
auf den Weg des Friedens.
Diese Erinnerung ist das Herzstück unseres Glaubens, weil diese
Erinnerung - und nur diese - Zukunft hat, Hoffnung weckt und
Orientierung auf der Wanderschaft durchs Leben gibt. Nur wenn diese
Erinnerung in uns lebendig bleibt, werden wir selbst wie ein Licht
in unserer Welt sein können. Nur wer seiner Welt Licht sein kann,
darf wahrhaft progressiv genannt werden. Und das ist unabhängig vom
Lebensalter.
Heute, am ersten Advent, beginnt die Zeit der Ankunft des Christus.
Drei Wochen des Wartens und der Erwartung. Zeit der Erwartungen an
uns selbst und unsere alle Jahre wieder hervorgekramte Fähigkeit zur
inneren und äußeren Harmonie. Zeit der Erwartungen, die andere an
uns haben: Schlecht, wenn unser sorgfältig ausgesuchtes Geschenk
beim Beschenkten dann ein unwilliges Gesicht hervorruft, weil der
statt einer Rheumadecke lieber ein Smartphone bekommen hätte. Zeit
der Erwartungen, die wir an andere haben: Schlecht, wenn der Vater
miterleben muss, wie sein verzogener Rotzlöffel der Tante einen
Aufstand macht, weil er ihr Geschenk für bescheiden hält.
Erwartungen, Erwartungen, Erwartungen, die aus der fröhlichen,
schnell eine unvergesslich verdrießliche Weihnacht machen.
Machen wir es doch wie der wackere Säugling im Werbespot. Zeigen wir
all den adventlichen Erwartungen an uns und andere den Vogel. Und
wenden wir unsere Erwartungen ganz dem großen Besuch aus der Höhe
zu, der an Weihnachten mit seiner herzlichen Barmherzigkeit zur Welt
kommt, zu uns und zu denen, die sitzen in Finsternis und Schatten
des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
67 Und sein Vater Zacharias wurde vom
Heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach:
68 Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!
Denn er hat besucht und erlöst sein Volk
69 und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils
im Hause seines Dieners David
70 – wie er vorzeiten geredet hat
durch den Mund seiner heiligen Propheten –,
71 dass er uns errettete von unsern Feinden
und aus der Hand aller, die uns hassen,
72 und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern
und gedächte an seinen heiligen Bund
73 und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham,
uns zu geben,
74 dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde,
75 ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang
in Heiligkeit und Gerechtigkeit
vor seinen Augen.
76 Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen.
Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest
77 und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk
in der Vergebung ihrer Sünden,
78 durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes,
durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe,
79 damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten
des Todes,
und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.
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