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Wirtschafts- und Marketingmethoden in der Kirche? Die Debatte in der Süddeutschen Zeitung zur "Modernität der Kirche" 2002

  • Der Artikel von Christian Nürnberger : "Es kann der Frömmste nicht in Frieden beten..." (SZ vom 13. Februar 2002)
  • Die Antwort des Landesbischof Johannes Friedrich: "Auf eine sich verändernde Gesellschaft muss Kirche mit veränderten Methoden reagieren" (SZ vom 19. Februar)
  • Christian Möller : "Mit Piercing auf dem Weg ins Ghetto - Hessen, Bayern, Baden: Wie die evangelische Kirche sich lächerlich macht"
    (SZ vom 5. März)
  • Peter F. Barrenstein: "Gottes Hände tragen uns - Was die Kirche von der Wirtschaft lernen sollte" (SZ vom 8. März)
  • Friedrich W Marquardt : "Zuhören, weniger reden! Wie die protestantische Kirche dem Ungeist entgehen könnte" (SZ vom 13. März)
  • Gert Scobel: "Freundliche Übernahme - Wie die Kirche zum Hochtheologiekonzern wurde" (SZ vom 20. März)
  • Carl Amery: "Die einzige Alternative - Warum wir eine mutige Kirche bräuchten" (SZ vom 03. April)
  • Ulrich Schneider "Hört auf die Nomaden! Die Kirche, das Geld und die Angst vor dem Dritten Weg "(SZ vom 11. April)
  • Matthias Schreiber: "Da ist der Augenblick - Wider den Alarmismus der Besorgten" (SZ vom 24. April)
  • Jürgen Werner: "Tröstliche Umwege - Wie die Kirche ihren eigenen Geist verrät" (SZ vom 14. Mai)
  • Alexander Kissler: "Sie säen nicht und kentern doch - Können Glaube und Wirtschaft dieselbe Sprache sprechen?" Zum Abschluss der SZ-Debatte über die Modernität der Kirche (SZ vom 25. Mai)
  • Nachwirkungen

  • Ökonomisierungstendenzen in der Kirche - Thema bei "Aufbruch -Gemeinde"
  • Warum McKinsey für die Kirche keine Lösung ist/ Von Christian Nürnberger (Vortrag beim 34. Rhein. Pfarrerinnen- und Pfarrertag am 3. November 2003 in Bonn) pdf-Datei, Acrobat-Reader erforderlich
  • "Die Torheit des Kreuzes und die Weisheit der Personalentwicklung - Acht Thesen"/ Von Prof. Jürgen Roloff (V) pdf-Datei, Acrobat-Reader erforderlich
  • Management und geistliche Kirchenleitung: Eine notwendige und beziehungsvolle Unterscheidung/ Von Prof. Dr. Volker Weymann pdf-Datei, Acrobat-Reader erforderlich
  • Scheitern vorprogrammiert - Anmerkungen eines protestantischen Gebrauchsintellektuellen zum Abschlussbericht des »Evangelischen Münchenprogramms« (eMp)/ Von Günter A. Menne („nachrichten“ der ELKB, Nr.11/2004, S.352-355) pdf-Datei, Acrobat-Reader erforderlich

  • Stand: 16.11.2016

     

     

     

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    Es kann der Frömmste nicht in Frieden beten...
                 

    ... wenn ihm die Kirche nicht Controller schickt: Eine neue Richtlinie will aus dem protestantischen Pfarrhaus ein weisungsabhängiges Dienstleistungszentrum machen.

    Von Christian Nürnberger

    "Hallöchen! Hier ist das Christsein." Immer an die Kunden denken! Aber vorher: Arbeits-Ziele festlegen, Ergebnisse bilanzieren, C.I. entwickeln und den Spiritual Flow in Schwung bringen. All das - und noch viel mehr -, um die Stickiness der Kirchen-User zu erhöhen. Klaro, Chef. Und Amen.
    (SZ v. 13.02.2002)

    Unter bayerischen Pfarrern spricht sich gegenwärtig herum, dass ihr oberster Chef, Landesbischof Johannes Friedrich, sie ab Herbst 2002 in ein Rattenrennen ohne Unterlass schicken will. Mit den „Richtlinien für die dienstliche Beurteilung von Pfarrern/innen in der Ev.- Luth. Kirche in Bayern“ werden die Prinzipien von McKinsey endgültig ins Pfarrhaus einziehen. In jährlichen Beurteilungsgesprächen soll jedem Pfarrer auf den Zahn gefühlt werden. Ziele für das kommende Jahr sollen festgelegt, „Fördermaßnahmen“ empfohlen und die Ergebnisse in standardisierter Form festgehalten und im Landeskirchenamt zentral gespeichert werden. Es geht dabei um Existenzsicherung: Wie verkauft sich der Pfarrer in der Öffentlichkeit? Wie entwickeln sich das Spendenaufkommen und der Gottesdienstbesuch, die Kirchenaustritte und Neueintritte, wie ist der Saldo? Wie im Fernsehen zählt die Quote, wie im Marketing geht es ums Image.

    „Wenn er im Bette erwacht, sieht er ein paar Zöpfe neben sich liegen, welche er früher nicht sah ...“ – so beschrieb Martin Luther seine ersten Erfahrungen nach seiner revolutionären Hochzeit mit Katharina von Bora, die er in Briefen respektvoll-ironisch mit ,,Mein lieber Herr Käthe“ anredete. Der Kurfürst hatte das Wittenberger Augustinerkloster den Luthers zum Hochzeitsgeschenk gemacht. Es wurde in Deutschland zum Urbild für das protestantische Pfarrhaus und zu einem Hort der Kultur. Das Pfarrhaus pflegte eine hohe Achtung der Heiligen Schrift, empfand darum Respekt vor Bildung und Gelehrsamkeit, war auf eine gute Erziehung der eigenen Kinder bedacht, und entwickelte sich so zu einer Institution, die das deutsche Geistesleben mit einem unermüdlichen Strom von Dichtern und Denkern beschenkte. Wohl mehr als ein Viertel aller Schriftsteller, Gelehrten, Sozialreformer und Erzieher der Deutschen kamen seit Beginn der Neuzeit aus einem Pfarrhaus.

    Luthers Kampf gegen die katholische Autoritätshörigkeit schuf ein Klima für kritische, emanzipierte Geister. Später ging es mit der Institution bergab. Die Zwei-Reiche-Lehre Luthers verführte zu einem ungesund engen Bündnis von Thron und Altar. Den Tiefpunkt markierten die Pfarrhäuser der „Deutschen Christen“, die das Evangelium zur Nazipropaganda pervertierten. Aber es gab auch die Pfarrhäuser der „Bekennenden Kirche“, die aus ihrem Evangelium das Richtige herauslasen: Widerstand. Aus dieser Tradition speiste sich ein Teil der rebellischen 68er Bewegung. Und in der DDR begannen und endeten die großen Demonstrationen der friedlichen Revolution von 1989 in den Kirchen.

    Die neuen Richtlinien verkennen die grundsätzlichen Unverträglichkeit des protestantischen Pfarrhauses mit Kontrolle, Hierarchie, Befehl und Gehorsam. Kirchenleitungen, die nicht mehr dienen, sondern herrschen wollen, zerstören das evangelische Pfarrhaus. Zudem sind diese Richtlinien nur die Spitze einer Entwicklung, die sich als ökonomistische Revolution von oben entpuppen wird.

    Da gibt es den Marburger Sozialethiker Wolfgang Nethöfel, der die evangelische Kirche zu „totalem Kundenkontakt“ aufgefordert hatte. Die Kirche müsse ihre „Unternehmensziele“ klarer bestimmen und sich entscheiden, ob sie als „Anbieter auf dem Sinnstiftungsmarkt“ die Nummer Eins bleiben oder „als Nischenanbieter Profil gewinnen“ wolle. Das „Unternehmen Kirche“ solle „kämpfen um Kundinnen und Kunden“ und die „Markt- und Meinungsführerschaft anstreben auch wenn dies gerade nicht in die langfristige Ökumenediplomatie passt“.

    Das war vor ungefähr fünf Jahren. Seitdem krempeln Nadelstreifentheologen die Kirche um, fordern eine „Corporate Identity“ der Kirche und die „Konzentration aufs Kerngeschäft“. Und wenn es einem Pfarrer einfach nicht gelingen will, Business und Kirche gedanklich zusammenzubringen? Dann wird es befohlen. Zwischen oben und unten besteht mehr denn je ein Machtverhältnis, und wer die Macht hat, der hört nicht zu, sondern ordnet an und degradiert den Pfarrer zum Untertan.

    Viele Dekanate, Bistümer und Landeskirchen gehen jetzt mit sehr viel Eifer daran, Logos zu erfinden und einheitliche Briefköpfe auf einheitliches Briefpapier zu drucken – Pfarrer spielen Unternehmenskultur. Vor allem die jungen spielen gerne mit, was nicht weiter verwundert, weil das Erfinden von Logos natürlich viel mehr Spaß macht, als eine kranke Oma zu besuchen, die leise und langweilig vor sich hinredet.

    Mit den Sitzungen, auf denen die Logo-Bastler ihre Kreativität austoben, lässt sich das Studentenleben in das Berufsleben hinein verlängern. Dieses gemeinsame Herumkaspern beim kreativen Gestalten, diese themenzentrierte Interaktion mit ihren gruppendynamischen Prozessen, erspart den Jungpfarrern den Praxisschock in der Gemeinde. Ohnehin scheut der Nachwuchs die Gemeindearbeit, trachten doch viele Jungpfarrer danach, ihre Zeit in der Gemeinde so kurz wie möglich zu halten und rasch in eine schicke Stabsstelle, in die Öffentlichkeitsarbeit oder ins Management zu entkommen. Früher wurde in Pfarrhäusern gerne getöpfert, heute wird an der PR und dem Erscheinungsbild gearbeitet. Dabei war sich das töpfernde Personal stets bewusst, dass es sich um eine Freizeitbeschäftigung handelte. Dagegen halten die corporate-identity-orientierten Pfarrer von heute ihr Tun für höchst professionell und verdrängen das Elementarste: Die Kirche hat bereits ein Logo.

    Das Kreuz wird seit rund zwei Jahrtausenden fast überall auf der Welt zuverlässig als „Firmenschild“ der Kirche erkannt. Es ist, zugegeben, sehr schlicht, auch sehr abgenutzt, morsch und mit Blut und Dreck besudelt, und seine Wirkung auf die heutigen Menschen ist eher abschreckend, es hat keine besonders attraktive Anmutung. Aber es ist das Logo der Kirche. Um dieses Zeichen ranken sich die Geschichte und Glaubenssätze, aus denen die Kirche besteht, und darum kann man sich als Jungpfarrer nicht einfach ein neues schnitzen, sondern muss sich schon die Mühe machen, der Welt zu erklären, warum es noch immer heilsam sein kann, sich dieser erschreckend unattraktiven Glaubensgeschichte zu stellen.

    Dieser Geschichte wäre auch zu entnehmen, dass es dem Chef des Ganzen nicht so sehr um Logo-, sondern eher um Weltgestaltung gegangen ist. Und wenn ein einfacher Kirchensteuerzahler sieht, dass sein Pfarrer an der Veränderung des Briefpapiers arbeitet statt an der Veränderung der Welt, dann fragt er sich schon, warum er dieses närrische Treiben noch weiter finanzieren soll. Und man fragt sich auch: Wo ist eigentlich der protestantische Widerstandsgeist geblieben? Warum rebellieren weder Pfarrer noch Gemeindemitglieder gegen die von oben angezettelte Entkernung der Pfarrpersönlichkeit und die Hochglanzpolitur der mehr und mehr von ihren Inhalten befreiten Hülle?

    Wer in die Kirche hineinhört, bekommt von den alten Pfarrern gesagt, sie hielten das ja auch für einen großen Humbug, aber in ein paar Jahren würden sie pensioniert, dann habe man mit dem Zirkus eh nichts mehr zu tun. Die Mittleren sagen, sie möchten ihre Kirche renovieren und müssen deshalb mit den Oberen zusammenarbeiten, sonst gibt’s kein Geld. Und die Jungen sehen überhaupt keinen Anlass für eine Rebellion, kommen schon so angepasst und brav von der Universität zu ihrem Arbeitgeber, dass sie gar kein anderes Ziel mehr kennen als die bloße Erhaltung ihrer Arbeitsplätze. Außerdem empfinden sie das Kirchenmonopoly als irgendwie cool.

    Auch Gottfried Benn verbrachte seine Kindheit in einem Pfarrhaus. Als er lange schon mit dem Christentum gebrochen hatte, dachte er noch dankbar zurück an die „moralische und intellektuelle Erbprägung“, die er dort erfahren hatte. Wehmütig erinnerte er sich an seine Erziehung im Schatten der riesigen Linde, des Flieders, der Akazien und des Faulbaums, die vor dem elterlichen Pfarrhaus standen. Woran werden sich heutige Pfarrerskinder später einmal erinnern? An ein Pfarrhaus, in dem die Stechuhr regiert? An einen Pfarrgarten, in dem auf jedem Baum ein Controller hockt? An die jämmerliche Außenstelle einer verknöcherten Behörde namens Kirche? Wehmut aber wird die Erinnerung an diese willkürlich von oben zerstörte Institution kaum noch begleiten. (Vom Autor ist u.a. das Buch "Kirche, wo bist du?" (dtv, 2000) erschienen.)

    Quelle: SZ vom 13.02.2002  
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       (SZ vom 13. Februar 02)

    Gottes Liebe weitersagen - Warum die Kirche sich wandeln muss

    Von Johannes Friedrich,
    Landesbischof der Evang.-Luth. Landeskirche in Bayern


    „Das Pfarrhaus ist schön, groß und geräumig. Das Leben fängt hier gar nicht so früh an, nämlich erst um ½ 9 versammeln sich die einzelnen. Am Sonntag habe ich mich dem Grafen Morbach in seinem fürstlichen Schlosse und etlichen andern Notabilitäten vorgestellt. Nachmittags fuhr ich mit meinem Chef in die Filialen Breda und Naugarten über Land. Es war prachtvoll. Es ist ein gar nicht auszusagendes Vergnügen, in dieser Weise wieder mit der Natur zusammen zu wohnen. In Naugarten hielt ich die Liturgie. Dann nahm ich an einer Sitzung des Gemeindekirchenrats teil und begleitete Pfarrer Gers zu einem Krankenabendmahl. Dann tranken wir bei dem Lehrer Kaffee und aßen Kuchen.“

    In dieser Zeitung (SZ) hat Christian Nürnberger am 12. Februar die evangelische Kirche und ihre Bemühungen, das Pfarrhaus zur weisungsgebundenen Servicezentrale umzugestalten, kritisiert. Nun antwortet der bayerische Landesbischof.

    So erzählt Heinrich Wolfgang Seidel vor genau hundert Jahren aus seiner Vikariatszeit in einer Kleinstadt irgendwo zwischen Jauche und Levkojen: eine vermeintliche Idylle, in der Pfarrer ihr Pfeifchen schmauchen und Bienen züchten. Aber die Wahrheit war schon damals weniger idyllisch, als es im Briefroman „Drei Stunden hinter Berlin“ den Anschein hat. Fast zur selben Zeit erscheint das viel gelesene „Tagebuch eines Großstadtpfarrers“, das Pfarrersein inmitten des Berliner Proletariats sehr anders beschreibt. Schon damals stellte sich die Frage, was die eigentlichen Aufgaben eines Pfarrers, einer Pfarrerin sind.

    Für das Pfarrersidyll, das eine wenig informierte Öffentlichkeit wie auch mancher Kritiker der real existierenden Kirche im Hinterkopf trägt, ist nicht zuletzt das 19. Jahrhundert zuständig: die Romantisierung der Familie Martin und Käthe Luther mit ihrer Kinderschar als Urbild des deutschen Pfarrhauses. Schon das Original war kein Idyll. Luther war auch nicht Pfarrer, sondern Theologieprofessor. Das vermeintliche Pfarrhaus: ein elender, viel zu großer Kasten, für eine Familie zum Wohnen wenig geeignet und schwer heizbar dazu. Luthers mussten ständig untervermieten, um wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Von Kleinfamilie keine Spur: Stets waren Gäste da, man saß regelmäßig mit zwanzig bis sechzig anderen Personen beim Essen.

    Die Wahrheit über die rastlos werkelnden Luthers, die kaum ein richtiges Privatleben hatten, war der heutigen Wirklichkeit eines Pfarrers näher als so manche Legende, die idealisierende Autoren stricken. Christian Nürnbergers Loblied klingt natürlich toll: das evangelische Pfarrhaus als „Hort der Kultur“ mit „Respekt vor Bildung und Gelehrsamkeit“, das sich zu einer Institution entwickelte, „die das deutsche Geistesleben mit einem unermüdlichen Strom von Dichtern und Denkern beschenkte“. Sicher, da ist historisch was dran. Aber in welcher Zeit und in welcher Umwelt war dies möglich?

    Beraten, nicht bevormunden

    „Früher“, schreibt Nürnberger, wurde im Pfarrhaus getöpfert. Ich kann mich an kein evangelisches Pfarrhaus erinnern, in dem getöpfert wurde, und ich habe ja nun wirklich eine kirchliche Sozialisation. Aber heute? Da „krempeln Nadelstreifentheologen die Kirche um, fordern eine Corporate Identity der Kirche und die Konzentration aufs Kerngeschäft“. Es ist nur gut, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer Zeit haben, sich auf ihre Kernaufgaben zu besinnen.

    Heute ist die Kirche nicht mehr der privilegierte Sinnvermittler. Sie befindet sich im Wettbewerb, ob uns das gefällt oder nicht. Heute geht nicht mehr alle Bildung von Klöstern und Pfarrhäusern aus. Von der Kirche wird dennoch Omnipräsenz in unserer Gesellschaft erwartet. Jedem Pfarrer, jeder Pfarrerin wachsen enorme Aufgaben zu durch unsere komplexer werdende Gesellschaft.

    Man sehe sich nur an, in welchen Bereichen diakonische Hilfe heute präsent sein muss und von den Menschen erwartet wird. Und diese Erwartung ist zunächst an den Gemeindepfarrer gerichtet. Pfarrerinnen und Pfarrer nehmen ihren Auftrag ernst und führen ein geistliches Leben, aber sie müssen neben ihren Kernaufgaben jede Menge Nebenaufgaben wahrnehmen. Sie sind nicht selten Dienstvorgesetzte für 60 und mehr hauptamtliche Mitarbeitende. Das Pfarrhaus wird von allen möglichen Leuten zu jeder Tages- und Nachtzeit als Serviceeinrichtung betrachtet. Nicht die Kirchenleitung betrachtet es so.

    Auch die Ehepartnerinnen oder Ehepartner der Amtsinhaber, die oft zu Recht selbst berufstätig sein wollen, sind im Pfarrhaus Ansprechpartner für die vielen Menschen, die kommen. Zusätzlich arbeiten sie oft in großem Umfang in der Gemeinde mit. Selbst die Kinder werden eingespannt, die in einem Großstadtpfarrhaus wenig Idylle und viel Stress erleben. Pfarrerinnen und Pfarrer strampeln sich ab und geben ihr Bestes, um für die Menschen da zu sein. Dabei überfordern sie sich bisweilen. Denn sie wollen sich allen neuen Herausforderungen stellen, ohne die alten Kernaufgaben zu vernachlässigen. Sie wissen, dass sie dafür spirituelle Tiefe und Reife brauchen und suchen sie auch.

    Die Kirche heute ist nicht mehr die Pfarrerskirche von gestern. Die Anforderungen an Pfarrer und Pfarrerinnen sind rapide gewachsen. Selbstbewusste Haupt- und Ehrenamtliche arbeiten im Team mit. Das führt mitunter zu ungeklärter Berufsidentität bei dem einen Pfarrer oder der anderen Pfarrerin: Wer bin ich in diesem Team? Ich bin Seelsorger und Dienstvorgesetzter zugleich, bin Wortverkündiger und Mitglied im Kirchenvorstand, den ich leiten soll, in dem ich aber auch nur eine Stimme habe. Die meisten von ihnen leisten vorzügliche Arbeit. Aber die Anforderungen sind oft größer als die Kräfte. Darum fragen Pfarrerinnen und Pfarrer nach Begleitung. Sie wollen von der Kirchenleitung nicht allein gelassen werden.

    Aus diesem Grund sind wir dabei, Mitarbeitendenjahresgespräche einzuführen. Alle Hauptamtlichen, zunächst aber die Pfarrerinnen und Pfarrer, haben das Recht, dass ihr Dienstvorgesetzter sich einmal im Jahr wenigstens zwei Stunden Zeit nimmt für sie. Der Pfarrerverein, die „Gewerkschaft“ der Pfarrer und Pfarrerinnen, hatte keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, sondern im Gegenteil die Frage: Was kann man tun, wenn ein Dienstvorgesetzter sich weigert, diese Gespräche zu führen? Lässt sich das einklagen? – Es geht darum, die Arbeit zu reflektieren, die Lebens- und Berufsplanung zu erörtern und zu verabreden: Wo wäre eine Fortbildung sinnvoll? Wie kann ich mein geistliches Leben vertiefen? Dafür muss Zeit zur Verfügung stehen, müssen andere Verpflichtungen zurücktreten. Darüber treffen die Gesprächspartner gemeinsam eine schriftliche Vereinbarung. Diese Gespräche sind vertraulich. Sie gehen, anders als Christian Nürnberger es behauptet, nicht in den Personalakt ein, werden nicht an das Landeskirchenamt gemeldet. Sie dienen nicht der Beurteilung, sondern der Personalförderung.

    Als Nürnberger Dekan habe ich solche Gespräche bereits vor Jahren eingeführt. Fast alle Pfarrer und Pfarrerinnen, mit denen ich diese Gespräche geführt habe, empfanden sie als sehr hilfreich. Und die Gespräche waren auch für mich sehr aufschlussreich, weil ich viel darüber gelernt habe, was ich als Vorgesetzter tun könnte, um den Dienst der Mitarbeitenden besser zu gestalten. Nicht selten habe ich wertvolle Anregungen für mein eigenes Leitungsverhalten bekommen. Kritik am Vorgesetzten ist für mich ein wesentlicher Bestandteil dieser Gespräche.

    Die Mitarbeitendenjahresgespräche, die eben kein Controlling und auch keine Leistungsbeurteilung sind, wollen ein Dienst an den Pfarrerinnen und Pfarrern sein. Niemand denkt daran, die Leistung eines Pfarrers, einer Pfarrerin aufgrund von Zahlen wie Gabenstatistik, Gottesdienstbesuch oder Kirchenaustritte zu bewerten. Um so mehr würde es mich interessieren, weshalb Nürnberger so drauflos knüppelt. Er muss sich Pfarrer erfinden: Mittvierziger, die mitmachen, „sonst gibt’s kein Geld“, „angepasste“, „brave“ Jungtheologen, die „das Kirchenmonopoly irgendwie cool“ finden, und ältere Kollegen, die das ganze „Gekasper für einen großen Humbug“ halten, aber nur auf ihre Pension warten. Mit solchen Klischees werden Pfarrer jeden Dienstalters nur karikiert. Das haben sie nicht verdient.

    Kirche ist nicht von der Welt, aber in der Welt. Sie ist nicht zeitgeistig, aber auch nicht anachronistisch. Als Zeugin dessen, der Mensch ward in Zeit und Raum, ist sie auf Synchronizität gewiesen. Kirche ist heute nicht mehr selbstverständlich. Auf eine sich verändernde Gesellschaft muss Kirche mit veränderten Methoden reagieren. Über seelsorgerliche Einzelkontakte bei Besuchen hinaus gewinnen andere Kommunikationsformen des Evangeliums an Bedeutung. Wenn wir unseren Zeitgenossen die Liebe Gottes weitersagen wollen, müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, die die Chance bieten, Menschen zu erreichen.

    Das Basteln an Logos wäre nur verwerflich, wenn es an die Stelle des kirchlichen Auftrags träte, aber nicht, wenn das Logo dem Auftrag dient. Es ist Aufgabe des Pfarrers, das Evangelium von der Liebe Gottes auf jede Weise zu verkündigen, mit der sich Menschen erreichen lassen. Dabei ist die alte Frau, die Nürnberger so geringschätzig apostrophiert, kein bisschen weniger im Blick als früher.

    Johannes Friedrich

    Quelle: SZ vom 19.02.2002
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       (SZ vom 19.Februar 02)

    Mit Piercing auf dem Weg ins Ghetto          

    Hessen, Bayern, Baden: Wie die evangelische Kirche sich lächerlich macht


    Von CHRISTIAN MÖLLER

    Beim Streit um die tatsächliche oder vermeintliche Umwandlung des protestantischen Pfarrhauses in ein weisungsabhängiges Dienstleistungszentrum habe ich den Eindruck, dass Christian Nürnberger und der bayerische Landesbischof Johannes Friedrich im entscheidenden Punkt aneinander vorbei reden.

    Die Frage nach der angemessenen Vermittlung der christlichen Botschaft bewegt derzeit die protestantische Kirche. Christian Nürnberger hat am 13.2. in dieser Zeitung eine Modernisierung kritisiert, die primär auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhe. Der bayerische Landesbischof Johannes Friedrich hat ihm am 19.2. widersprochen und den Einsatz „veränderter Methoden“ verteidigt. Nun äußert sich Christian Möller, Professor für Praktische Theologie an der Universität Heidelberg und ehemaliger Pfarrer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.

    Nürnberger attackiert „Richtlinien für die dienstliche Beurteilung von Pfarrer/innen in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern“, die ab Herbst 2002 eingeführt werden sollen und die ein „Controlling“ und eine „Leistungsbeurteilung“ vorsehen. Johannes Friedrich verteidigt die „Mitarbeitendenjahresgespräche“ mit guten Argumenten als einen „Dienst an den Pfarrerinnen und Pfarrern“ und schließt ein „Controlling“ wie eine „Leistungsbeurteilung“ aus.

    Die entscheidende Frage bleibt offen: Gibt es nun die von Nürnberger angegriffenen „Richtlinien“, oder lässt der bayerische Landesbischof diese Richtlinien stillschweigend mit seiner Antwort in den Papierkorb fallen? Das wäre ja immerhin ein Erfolg für die bayerischen Pfarrerinnen und Pfarrer. Deren Unabhängigkeit stünde nämlich auf dem Spiel, wenn sie in permanenten Beurteilungsgesprächen ihre Erfolge vorweisen, ihre Probleme fixieren und ihre Ziele für das kommende Jahr festlegen sollen, wobei die Ergebnisse der Gespräche an das Landeskirchenamt weitergegeben und dort zentral gespeichert werden.

    Dieses Überwachungsmodell würde natürlich eine immense Abhängigkeit vom Wohlwollen des Dienstvorgesetzten schaffen und den Pfarrer aufs höchste verunsichern. Wie soll denn auch von außen beurteilt werden, wen die Predigt ins Herz getroffen hat und wie hilfreich ein vertrauliches Seelsorgegespräch war? Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass die Controlling-Verfahren von McKinsey und Co. ihre Grenzen haben und sich auf die kirchliche Arbeit nicht übertragen lassen.

    Der hessische Pfarrerverein hat kürzlich eine Befragung seiner Pfarrer und Pfarrerinnen durchgeführt, um deren Zufriedenheit mit ihrer Arbeitssituation zu erkunden. Das Ergebnis: Die überwiegende Mehrheit zeigte sich trotz hoher Belastung mit der vielfältigen Gemeindearbeit zufrieden, äußerte jedoch deutlichen Unmut über manche kontraproduktive Aktionen der Kirchenleitung. So werde etwa mit deren Image-Kampagne ein fatales Bild von Kirche erzeugt, für das dann die Pfarrer und Pfarrerinnen den feixenden Menschen in den Gemeinden Rede und Antwort stehen müssen. Der jetzige Bischof von Hessen-Kassel, Martin Hein, hat beispielsweise noch als Dekan einen Kinospot mit verantwortet, bei dem auf der Brustwarze eines jungen Mannes ein gepierctes Kreuz gezeigt wurde, wozu die message ertönte: „Die Zeiten haben sich geändert. Evangelische Kirche in Kassel!“ Das solchermaßen umworbene Publikum brach in schallendes Gelächter aus.

    Für die Kinos von vierzig badischen Städten wurde im oberkirchenrätlichen Auftrag ein 35-Sekunden-Spot produziert, der Jungwähler an die kirchlichen Wahlurnen locken sollte. Das Filmchen zeigt ein junges Mädchen, das bei einem Ausstellungsbesuch plötzlich einen Magendruck verspürt. Vor Schmerz gekrümmt, legt sie sich auf den Boden und lässt geräuschvoll einen Darmwind ab. Daraufhin skandiert die Darstellerin: „Mehr als heiße Luft – die evangelische Jugend geht wählen.“ Bei der Präsentation des Werbespots erklärte der für solche Kampagnen besonders anfällige Landesbischof Ulrich Fischer, er halte es „für gut, dass auf originelle Weise geworben“ werde. Der Sprecher der produzierenden Werbeagentur sagte, er habe sich gewundert, dass die Kirche diesen Spot-Vorschlag auf Anhieb akzeptierte.

    Eine ähnlich lächerliche Wirkung dürfte auch die neue Kampagne der bayerischen Landeskirche erzeugen, die vorsieht, an allen kirchlichen Häusern einheitliche Logos anzubringen. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer werden sich die Haare raufen, zumal solche Aktionen nicht nur viel Geld verbrauchen, sondern auch viel Ansehen der Kirche verspielen. Sicherlich hat der bayerische Landesbischof im Allgemeinen Recht, wenn er fordert: „Auf eine sich verändernde Gesellschaft muss die Kirche mit veränderten Methoden reagieren.“ Auch dem neuen braunschweigischen Bischof Friedrich Weber kann grundsätzlich darin zugestimmt werden, dass die Kirche „raus aus dem Kommunikationsghetto“ muss und deshalb eine Sprache braucht, „die mit dem Leben zu tun hat“.

    Die Kirche verwickelt sich jedoch in heillose Widersprüche, wenn diese veränderten Methoden dazu führen, dass die umworbenen distanzierten Kirchenmitglieder auf noch größeren Abstand zu einer sich anbiedernden Kirche gehen. Dann schließen sich nur die Mauern um das „Kommunikationsghetto“ noch fester. Am Ende halten es auch die treuen Kirchenmitglieder nicht mehr aus und wechseln zu einer Freikirche über. Zurück bleibt dann vielleicht noch ein kleiner Insiderkreis, der sich ständig neue Kommunikationskampagnen ausdenkt und an immer neuen Logos bastelt. Das ist sicherlich gut gemeint, aber tatsächlich nicht gut.

    Christian Nürnberger gibt zu bedenken: „Das Kreuz wird seit rund zwei Jahrtausenden fast überall auf der Welt zuverlässig als Firmenschild der Kirche erkannt. Es ist, zugegeben, sehr schlicht, auch sehr abgenutzt, morsch und mit Blut und Dreck besudelt, und es hat keine besonders attraktive Anmutung. Aber es ist das Logo der Kirche.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

    CHRISTIAN MÖLLER

    Quelle: SZ vom 05.03.2002
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       (SZ vom 5. März 02)

    Gottes Hände tragen uns

    Was die Kirche von der Wirtschaft lernen sollte

    von PETER F. BARRENSTEIN

    Eine Angst geht um in der evangelischen Kirche: Dass der christliche Glaube an Bedeutung verliert, dass die Kirche in einer Sinnkrise steckt, dass es andere Kirchengemeinschaften gibt, die mit den Bedürfnissen ihrer Anhänger besser zurechtkommen und dabei prosperieren - nein davon handelt diese Angst nicht. Vielmehr gilt es, einer „Verwirtschaftlichung“ der Kirche, einer „Säkularisierung der Spiritualität“ entgegenzutreten. Man sorgt sich, dass Kirche und Glaube „instrumentalisiert“ werden. Aber es geht auch um Wahrnehmungsverweigerung und die Wahrung von Besitzständen, nicht nur intellektueller Art.

    Die protestantische Kirche ringt um eine zeitgemäße Form der Verkündigung. Bisher haben Christian Nürnberger (SZ vom 13.2.), der bayerische Landesbischof Johannes Friedrich (19.2.) und der Theologieprofessor Christian Möller (5.3.) ihre Positionen dargelegt. Nun verteidigt Peter F. Barrenstein den Einsatz marktwirtschaftlicher Methoden. Der Autor ist Director bei McKinsey  & Company in München und Vorstandsmitglied des "Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer" (AEU). Er war der Mitinitiator des „Evangelischen Münchenprogramms (eMp)“, mit dem McKinsey im Jahr 1996 die innerkirchlichen Strukturen untersuchte und das Dekanat München beriet. (Das Münchenprogramm wurde im Jahr 2004 nach negativer Entscheidung der betroffenen Gemeinden eingestellt und muss als gescheitert betrachtet werden. d.Red.)

    Christian Nürnberger hat diese Angst romantisch-verklärend beschworen und dazu das Feindbild geliefert: McKinsey. Tatsächlich hat ein Team der Beratungsfirma McKinsey vor sechs Jahren gemeinsam mit dem damaligen bayerischen Landesbischof ein „Pro Bono“-Projekt fürs Münchner Dekanat durchgeführt. Die Ergebnisse erregten Aufsehen und lösten eine Welle von Diskussionen innerhalb und außerhalb der evangelischen Kirche aus. Wichtigster Erfolg war, dass bundesweit vielfältige Veränderungsprozesse in Gang kamen: Rückbesinnung der Kirche auf ihre „Kernkompetenzen“, Strukturreformen, Verbesserungen in den internen Abläufen, systematischeres Mitarbeitermanagement.

    Anders als viele Kritiker uns glauben machen wollen, geht es beim „Evangelischen München Programm“ gerade nicht um eine Relativierung der Botschaft des Evangeliums. Vielmehr soll das Programm es der Kirche ermöglichen, ihren Auftrag und ihre Aufgaben besser zu erfüllen – indem es Vorgehensweisen erfolgreicher Unternehmen für die Kirche nutzbar macht. Solche wirtschaftlichen Erfahrungen lassen sich naturgemäß nur auf wenige, sorgsam ausgewählte Bereiche kirchlicher Arbeit übertragen.

    Die christliche Botschaft der Vergebung und Hoffnung ist ebenso zeitlos wie einzigartig: „Wir können nicht tiefer fallen als in die Hände Gottes.“ Christliches Gedankengut hat unser Weltbild geprägt, die Zehn Gebote und die Gleichnisreden bilden die Textur unseres Kultursystems. Wie kommt es dann, dass die Außendarstellung unserer Kirche, aber auch die innerkirchlichen Diskussionen so oft geprägt sind von Verzagen und Hilflosigkeit? Erfolgreiche Unternehmen begeistern ihre Mitarbeiter mit Visionen und schaffen herausragenden Nutzen für ihre Kunden. Als Christen haben wir diese Vision schon längst: das Evangelium, das es mutig, vorwärtsgerichtet und pointiert zu verkündigen gilt.

    Angesichts des häufigen Vorwurfs der Beliebigkeit und Profillosigkeit sollte sich die Kirche bewusst auf Kernkompetenzen wie Glaubensvermittlung, Missionierung, individuelle Seelsorge und soziale Leistungen konzentrieren. Umgekehrt bedeutet dies, außerhalb dieser Kernkompetenzen liegenden Tätigkeiten aufzugeben: Sprach- und EDV-Kurse sind ebenso mögliche „Streichkandidaten“ wie Stellungnahmen zu jedwedem Thema der Tagespolitik.

    Innerhalb der festgelegten Kompetenzen müssen dann klare Ziele formuliert werden: Konfirmandenunterricht darf weder ausfallen noch zur Alibiveranstaltung degenerieren. Hausbesuche bei allen neuen Gemeindemitgliedern sollten selbstverständlich sein. Sterbebegleitung oder seelsorgerische Betreuung von Hinterbliebenen müssen Vorrang haben vor Verwaltungstätigkeiten. Mitarbeiter sind die wichtigste weltliche Ressource der Kirche. Gleichwohl werden sie nur allzu oft sich selber überlassen.

    Dass es auch anders geht, zeigen Beispiele aus der Wirtschaft: Erfolgreiche Unternehmen setzen alles daran, ihre Mitarbeiter für die Unternehmensziele zu mobilisieren und sie zu kontinuierlich besseren Leistungen zu führen. Dazu gibt es regelmäßige Personalgespräche, Feedback für Vorgesetzte, Fortbildungsprogramme, aber auch motivierende Gehaltssysteme. Individuelle Stärken sollen gefördert und vorhandene Schwachstellen ausgeräumt werden.

    Unklare Zuständigkeiten und zu komplexe Strukturen gehören im kirchlichen Bereich noch zur Alltagsrealität. Mehr Effektivität heißt hier das Ziel. Dazu gilt es, alle Strukturen, Kernprozesse und Systeme so auszurichten, dass sie die Mitarbeiter bei der Umsetzung der gewählten Strategien wirklich unterstützen. Insbesondere die Systeme zur Kostensteuerung, zum Fundraising sowie die Instrumente zur Erfassung von Verhalten und Erwartungen der Mitglieder sind entsprechend weiterzuentwickeln.

    Darüber hinaus muss es darum gehen, institutionelles Lernen und einen Erfahrungsaustausch auch in der Kirche sicherzustellen - unter Einbeziehung aller gewählten Steuerungsgremien. Das Lutherische „Hier stehe ich und kann nicht anders“ dient nur allzu oft als Ausrede, um das eigene Verhalten mit niemandem diskutieren zu müssen.

    Bei aller Berücksichtigung spezifischer Kirchenbelange dürfen auch Effizienzaspekte nicht zu kurz kommen. Doppelarbeiten müssen vermieden werden, auf Gemeindeebene ebenso wie in den Landeskirchen und national. Mit möglichst wenig Mitteleinsatz muss das bestmögliche Ergebnis erzielt werden. Angesichts aufwendiger Verwaltungsapparate und einer ungenügenden Ausstattung mit Informations- und Bürotechnik bieten sich vielfältige Ansatzpunkte, Kosten zu senken und Verwaltungsmitarbeiter nach Möglichkeit für die Gemeindearbeit freizusetzen.

    All dies soll für die kirchliche Arbeit unerheblich sein, soll den Auftrag des Evangeliums gar konterkarieren? Eher gilt doch das genaue Gegenteil! Nur wenn wir alle verfügbaren Erfahrungen, auch die betriebswirtschaftlichen, sinnvoll nutzen, können wir uns gewiss sein, dass die Kirche auch künftig ihre zentralen Aufgaben voll zu erfüllen vermag. Und damit dienen wir einem übergreifenden Ziel: Dass unser christlicher Glaube für jeden einzelnen bedeutsam bleibt und in unserer ganzen Gesellschaft seinen Stellenwert behält.

    PETER F. BARRENSTEIN

    Quelle: SZ vom 08.03.2002
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       (SZ vom 8. März 02)

    Zuhören, weniger reden!

    Wie die protestantische Kirche dem Ungeist entgehen könnte

    VON FRIEDRICH W. MARQUARDT (V
    25. Mai 2002)

    Als ich vor Jahrzehnten in München zum Pfarrer ordiniert worden bin, habe ich darauf bestanden, außer auf die Lutherischen Bekenntnisschriften auch auf die Barmer Theologische Erklärung der „Bekennenden Kirche“ von 1934 verpflichtet zu werden. Seit 45 Jahren bin ich Prediger in Martin Niemöllers Dahlemer Gemeinde, einst einem Zentrum des kirchlichen Gegensatzes zur Verwüstung durch die damals „moderne“, die nationalsozialistische Gesellschaft.

    An unserer Debatte zur Modernisierung der protestantischen Kirche haben bisher Christian Nürnberger, Landesbischof Johannes Friedrich, der Theologe Christian Möller und McKinsey-Manager Peter Barrenstein teilgenommen. Heute äußert sich Friedrich-Wilhelm Marquardt, emeritierter Professor für evangelische Systematische Theologie an der FU Berlin.

    Ich bin somit auch auf den dritten Erkenntnissatz von Barmen ordiniert worden, wonach die Kirche „die Gemeinde von Schwestern und Brüdern“ ist – und nicht von zentralen Kirchenleitungen, Dekanen und anderen Richtliniengebern – und wonach diese Kirche wie mit ihrer Botschaft auch „mit ihrer Ordnung“ bezeugt, was ihre Sache ist: „Allein Gottes Eigentum“ ist sie – und nicht das irgendwelcher Systemzwänge. Deshalb war es nach Auffassung der „Bekennenden Kirche“ unmöglich, ein Führerprinzip in der Kirche zu etablieren, das damals gesellschaftliche Effektivität versprach.

    Nicht nur weil ich in München darauf verpflichtet worden bin, sondern auch aus Erfahrung bin ich davon überzeugt, dass gerade Menschen von heute ehrliche Erfolglosigkeit und eine hartnäckige Abseitsstellung glaubwürdiger finden als einen Assimilationswillen der Kirche an den dernier cri gesellschaftlicher Entwicklungen. Man schaue auf die Hartnäckigkeit des jüdischen Volkes in seiner Geschichte und auf gewisse Züge am gegenwärtigen Papst.

    Wen oder was aber könnte McKinsey in der Kirche bezeugen als den „Fürsten dieser Welt“? Komme doch ja kein Lutheraner mit jener einst unter dem Stichwort „Adiaphora“ weit verbreiteten Lehre des 17. Jahrhunderts, der zufolge die Methoden der Verkündigung für die Botschaft unerheblich seien. Und erst recht niemand mit einer Zuordnung der angeblichen gleichgültigen Mittel zum „Gesetz“ der Lebenswirklichkeit, die in all ihren Ausprägungen durch das Evangelium geadelt werde. Spiele man nicht das ebenfalls uralte Spiel „Praxis“ gegen „Theorie“. Das würde nur die Verleugnung des Heiligen Geistes bedeuten, der an Gott und Jesus gebunden und gerade darin ausgegossen ist „über alles Fleisch“, also alle Leute, nicht nur die Gutwilligen. Warum kann die Kirche nicht anerkennen, dass auch die Menschen, die ihr weglaufen, zu dieser Flucht vom Geist getrieben sind, und warum lauscht sie nicht längst auf das, was sie von dort her – aus der Entfernung – anspricht?

    Karl Barth schrieb 1916: „Es ist eine wundervolle Illusion, wenn wir uns damit trösten können, dass in unserem Europa neben Kapitalismus, Prostitution und Militarismus die kirchliche Verkündigung ihren unaufhaltsamen Gang geht. Noch sind wir Christen – eine wundervolle Illusion, aber eine Illusion! Was soll all das Predigen, Taufen, Konfirmieren und Orgeln? All die , sittlich-religiösen Ratschläge‘, die Gemeindehäuser mit und ohne Projektionsapparat.“ Später ergänzte er: „Wir brauchen tüchtige Pfarrer, aber nicht geschäftstüchtige. Die Verwaltung des Wortes ist kein Geschäft, und wenn es noch so glänzend ginge. Die Tüchtigkeit wird sich zu erweisen haben in Situationen, in die in Geschäften nur Untüchtige kommen: in Erfolgs- und Wirkungslosigkeit, in schwerster Isolierung, in negativen Abschlüssen, vielleicht bis zum Lebensende.“

    Eine Illusion ist es jedenfalls, so zu tun, als lebten wir heute in einer „veränderten Gesellschaft“ und als hätten die „modernen Menschen“ eine ganz andere Auffassungsgabe für das Evangelium als die Menschen früherer Generationen. Die Jagd der Evangelischen Kirchen dem „modernen Menschen“ hinterher war bisher immer, ob 1933 oder 2002, ihre bornierteste Selbsttäuschung. Martin Luther hielt dagegen: Das Evangelium findet seine Hörer nicht vor, sondern schafft sie sich. Liebe Evangelische Kirche, lerne bei deinem Lehrer!

    Statt unablässig an ihrem eigenen Weiterreden herumzubasteln, sollte die Kirche eine Schule des Hörens kultivieren, des Hörens auf die Bibel und des Hörens auf die Menschen. Sie braucht tatsächlich einen „anderen“, nämlich den ihr eigenen Geist, keine Ersatz-Systeme an dessen Stelle. Vor allem aber, liebe evangelische Kirche: Sorge dafür, dass deine Pfarrer „glaubwürdige“ Menschen bleiben oder werden können – solche, die selbst dem Herrn glauben, den sie predigen. Seelsorge an den Seelsorgern ist die einzige Aufgabe für eine Kirchenleitung. Dann hat’s keine Not.

    FRIEDRICH-W. MARQUARDT

    Quelle: SZ vom 13.03.2002
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       (SZ vom 13. März 02)

    Freundliche Übernahme

    Wie die Kirche zum Hochtheologiekonzern wurde

    VON GERT SCOBEL

    Religion hat es schwer. Sie war mal für den Glauben, für Seele und Sinn verantwortlich. Im Fernsehen läuft derzeit eine Werbung, die festhält, was geschehen ist: „Nutella ist für die Seele.“ Eine Nussnougatcreme erklärt sich für die Seele zuständig. Ferrero folgt damit ebenso dem Credo des kundenorientierten Handelns wie die Kirche selbst. Um den Jargon der Leitung einer evangelischen Landeskirche aufzugreifen: „Welche Ziele nehmen wir uns vor?“, fragen die Theologen dort und wollen ermitteln, „welchen Gewinn die Kunden in dem jeweiligen Angebot sehen“, was wiederum eine „Erfassung von Erfolgen und Veränderungsnotwendigkeiten durch standardisiertes Berichtswesen“ erforderlich macht. Unschwer lässt sich erkennen: Gute Theologen sind Unternehmensberater.

    In unserer Reihe zur Modernität der protestantischen Kirche äußerten sich bisher Christian Nürnberger, Johannes Friedrich, Christian Möller, Peter Barrenstein und Friedrich-W. Marquardt. Heute schreibt Gert Scobel. Er studierte Theologie und ist moderierender Redakteur der „Kulturzeit“ bei 3sat und des „ARD-Morgenmagazins“.

    Robert Musil sprach von einer „Großindustrie des Geistes“ und meinte genau das: Nutella und den neuen Kirchen-Management-Jargon. Die Kirchen sind Großindustrien des Geistes geworden, in Amerika noch mehr als hierzulande. „Religion ist Geld“, sagte mir ein Anwalt in Los Angeles; Kirchen funktionierten eben wie andere Geschäfte auch. Die fatale Vereinigung von Kohlenpreis und Seele, von der Musil sprach, ist Wirklichkeit geworden. Die Kirchen wollen nun endgültig zum Hochtheologiekonzern werden. Männer ohne Kirchen-, aber mit McKinsey-Eigenschaften sind die geistigen Führer, die Firmen und Kirchen gleichermaßen den Erfolg verheißen.

    McKinsey hat Sendungsbewusstsein. Marvin Bower, legendärer Nachfolger des Gründervaters James Oscar McKinsey hatte durchgesetzt, dass in Bezug auf McKinsey nur noch von der „Firma“ gesprochen wurde. Und Rajat Gupta, Weltchef der „Firma“, bekannte, dass es das Ziel von McKinsey sei, in jeder wichtigen Volkswirtschaft entscheidenden Einfluss zu haben. Wenn man bedenkt, dass die Kirche bislang das globalste Unternehmen mit der längsten Beratungserfahrung war, wird man das Gefühl nicht los, es bei McKinsey mit einer konkurrierenden Religion zu tun zu haben, mit einer Bruderschaft, einer Art Geheimbund derer, die in Wirtschaft, Finanzen und Unternehmen weltweit bestimmen.

    Business Week sprach von den Jesuiten der Wirtschaft. McKinsey gilt als das päpstlichste Unternehmen, wenn es ums Rechnen und Rationalisieren geht. Dabei vernachlässigt McKinsey systematisch die so genannten weichen Faktoren. McKinsey kann sparen, erreicht aber keine Steigerung der Leistung, und das wäre ja das eigentliche Ziel einer nachhaltigen Beratung. Die Frage ist: Wussten das die Kirchen, die bereit sind, viel Geld auszugeben für eine Beratung, die leider nicht im doppelten Sinn „teuer“ ist?

    Psychotherapeuten werden oft als die säkularisierten Beichtväter bezeichnet. Analog dazu sind Unternehmensberater die spirituellen Führer und Fundamentaltheologen einer von Wirtschaft dominierten Gesellschaft. Unternehmensberater und Theologen konkurrieren auf einem zum Verwechseln ähnlichen Feld: Sie sind mit Blick auf das so genannte Letzte Erzkonkurrenten. Das Wesen dieser Konkurrenz scheint mir theologisch nicht wirklich begriffen zu sein.

    Mit der Übernahme der Kirchenführung durch Berater – man spricht heute von Visionsmanagement – wird ein verräterisches Signal gesetzt. Die Denkhoheit in Sachen Weg und Ziel gehört damit weithin sichtbar nicht mehr den Theologen, sondern den Technokraten. Sie definieren Ziele und kontrollieren die Wege. Controlling, die McKinsey-Königsstrategie, wird zum Maß allen Handelns der Kirche, also der Gemeinschaft der Gläubigen. Indem McKinsey den Kirchen entscheidende Ratschläge gibt, haben die Unternehmensberater ihr Ziel, Marktführer auch des Sinngeschäftes zu werden, erreicht. Ihre implizit religiöse Rede, der theologische Unterton ihrer Beratung wird durch die Kirche selbst, die ihren mental-strategischen Bankrott eingesteht, symbolisch abgesegnet.

    Damit gerät die Besinnung auf eine dem eigenen Anspruch nach unüberbietbare Botschaft in arge Bedrängnis. Was soll Erfolg bedeuten, wenn doch der Glaube etwas ist, mit dem ein Leben lang gerungen werden muss, weil es um Verlässlichkeit auch angesichts des Todes geht? Wie sehen Produktverbesserung, Erfolgsüberprüfung und Qualitätssicherung aus, wenn es um Unbedingtes geht?

    Sicher hilft Beratung, die strategische Blauäugigkeit der Kirchenmanager in den Griff zu bekommen und etwa eine verantwortungsvollere Personalführung zu entwickeln. Doch scheint die Grenze überschritten, wenn eine Unternehmensberatung zentrale Ziele der Kirche außer acht lässt oder umdefiniert. Denn das Ziel einer Unternehmensberatung kann nur Vorletztes sein, nicht aber jener Weg, der laut kirchlichem Credo der Weg Gottes in der Geschichte ist.

    McKinsey ist auf verräterische Weise geschickt. Im Statement des Managers Peter Barrenstein (SZ vom 8.3.) erscheint Religion lediglich als „Textur unseres Kultursystems“. Mit dieser Strategie, Religion in Kultur aufgehen zu lassen, wird Religion gänzlich ausgehebelt. Nicht nur das: McKinsey kann sich aufgrund des „Tertium Datur“, des scheinbar gemeinsamen Feldes der Kultur, als den Theologen ebenbürtig und damit am Ende als technisch überlegen erweisen. Außerdem suggeriert Barrenstein mit seiner Behauptung, „komplexe Strukturen gehören im kirchlichen Bereich noch zur Alltagsrealität“, dass jetzt eine Phase der Reduktion von Komplexität angemessen wäre. Aber war das nicht, Luhmann zufolge, das Kerngeschäft von Metaphysik und Religion, nicht aber jenes der Unternehmensberatung?

    Letztlich hat zwar Luther selbst den Beruf des Unternehmensberaters für Gemeinden erfunden. 1528 schrieb er: „Ein wie göttliches, heilsames Werk ist es, die Pfarreien und christlichen Gemeinden durch verständige, geeignete Leute zu besuchen. Denn eigentlich heißt ein Bischof ein Aufseher und Visitator.“ Seitdem ist wenig geschehen, doch es stellt sich die Frage, ob inzwischen die Bischöfe selbst zu ungläubigen und hilflosen „Pfarrkindern“ geworden sind, die in Zeiten der Not nach einem Ratgeber, einem Unternehmensberater, verlangen. Luthers Skepsis darf jedoch nicht verschwiegen werden. Er fügte nämlich hinzu: „Dieses kostbare Werk ist ganz dahingefallen. Wie man lehren, glauben, lieben, wie man christlich leben solle, wie die Armen versorgt werden, wie man die Schwachen tröstet, die Zügellosen straft und was sonst noch zu diesem Amt gehört, dessen ist nie gedacht worden.“

    GERT SCOBEL

    Gert Scobel studierte Theologie und ist Fernsehmoderator und Redaktionsleiter bei 3sat.

    Quelle: SZ vom 20.03.2002
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       (SZ vom 20. März 02)

    Die einzige Alternative

    Warum wir eine mutige Kirche bräuchten


    Von Carl Amery

    Vermutlich greifen in der Diskussion um den seelsorgerischen Weg der evangelischen wie auch der katholischen Kirche alle Gesprächspartner, die „Traditionalisten“ wie die „Rationalisierer“, erheblich zu kurz. Man spielt auf einem engen Pingpong-Tisch, während Diagnose wie Therapie auf einem weiten historischen Schlachtfeld gesucht werden müssen.

    In unserer Debatte zur Modernität der protestantischen Kirche, die mit einem Beitrag von Christian Nürnberger begonnen hat (SZ vom 13.2.), kamen bisher fast ausnahmslos Protestanten zu Wort. Heute schreibt mit Carl Amery ein bekennender Katholik über eine für beide christlichen Konfessionen gleiche Konfliktlage. Vom Autor erschien zuletzt „Global Exit – Die Kirchen und der Totale Markt“ (Luchterhand Literaturverlag, München 2002. 240 Seiten, 18 Euro).

    Es gibt ein Fragment von Walter Benjamin aus dem Jahr 1921 mit dem Titel „Kapitalismus als Religion“. Diese zweieinhalb Seiten sind das Profundeste, was bisher über das Thema aufzufinden ist. Der Text ist schwierig, aber seine Folgerungen sind ein Dreivierteljahrhundert später evident. Man nennt den vollreifen Kapitalismus von heute den Totalen Markt, und sobald man diese Perspektive einnimmt, entdeckt man an diesem Totalen Markt fast alle Kriterien des Kaiserkults im späten Rom. Er war, ebenso wie der Totale Markt, transzendenzarm bis transzendenzlos; er bestand lediglich auf seiner Allmacht, seiner Alternativlosigkeit: TINA – There is no alternative.

    TINA ist die Formel, die heute von Francis Fukuyama und allen Wirtschaftsjournalisten in die Welt posaunt wird. Hinter der scheinbaren Toleranz dieses Marktes, der Sekten und Event-Kirchen jeder Art begrüßt, entwickelte sich allerdings eine totalitäre Seelsorge, die man gemeinhin als Konsumismus bezeichnet. Hier liegt der zentrale Sorgenpunkt der Kirchen. Die Wirkungen dieser Seelsorge sind so fundamental, dass man von einer Seelenentsorgung der Massen, einschließlich der statistischen Normalchristen sprechen kann. Wer nach Belegen hierfür sucht, der lese das Büchlein „ Generation Golf“ des jungen Herrn Illies und bestaune die selbst gewählte Amputation aller politischen, sozialen, moralischen Gliedmaßen.

    Die Reichsreligion des Geldes

    Das also ist der Tatbestand: Die traditionellen Kirchen stehen einer Zentralmacht gegenüber, für die der alte konstantinische Pakt zwischen Thron und Altar nichtssagend geworden ist. Solange die TINA-Formel anerkannt wird und solange der Markt seine Seelsorge unbekümmert betreiben kann, sollen die Kirchen ruhig als Teil des Kulturbetriebs weiterwursteln. Und der Markt kann davon ausgehen, dass weniger schwierige, mit stärkeren Drogen angereicherte Kulte die alten Traditionen überflügeln und überflüssig machen werden. Die Prognose glaubt an ein spektakuläres Wachstum von Freikirchen und sektiererischen Angeboten, an ihre Verdopplung in den nächsten 40 Jahren von 500 Millionen auf eine Milliarde, während die alten verfassten Kirchen ihre statistischen Bestände höchstens halten können. Besonders schlecht sind die Aussichten für den Protestantismus.

    Was ist also zu tun? Die schlichte Wahrheit lautet, dass die Verkündigung kraftlos bleiben wird, wenn sie nicht den einen Schwerpunkt, die entscheidende Blindheit des fundamentalistischen Marktes, aufdeckt und bekämpft: seine Unfähigkeit zur Zukunft.

    Der Totale Markt ist schlichtweg der Weg in die Abschaffung der Zukunft. Alle Parameter deuten darauf hin, dass es ihm unmöglich sein wird, eine Methode zur Rettung der Lebenswelt zu finden – schon weil seine Theologie, die zünftig eingespielte Wirtschaftswissenschaft, außer Stande ist, ein plausibles Schrumpfungsmodell zu entwerfen. Artensterben, Klimawechsel, Erschöpfung der Bodenfruchtbarkeit, demographische Entwicklung: Die blutige Ironie ist, dass der Totale Markt auch für diese äußersten Wahrscheinlichkeiten keine Alternative anzubieten hat. Seine finale Logik ist die resignative Akzeptanz, wenn nicht der Heroismus des kollektiven Selbstmords.

    Hier wird’s für die Kirchen als die ältesten Hüter der judäisch- christlichen Perspektive, die Verkünderinnen verbürgter Hoffnung, äußerst interessant: Wenn der Menschheit der Untergang aus dem Verfall ihrer demütigsten materiellen Lebensbedingungen droht – aus Bodenbeschaffenheit, Wassermangel, der Zusammensetzung und der Temperatur der Atemluft –, sind die Kirchen dann nicht aufgerufen, hier nicht nur zu warnen, sondern aktiv zu widerstehen? Oder verharren sie dabei, „Heils“-Geschichte abgehoben von Lebens- und Naturgeschichte zu verkünden? Zumal dann, wenn die Reichsreligion, also der Totale Markt und seine Seelsorge, so offensichtlich auch zur Verwüstung der Seelenlandschaften, zum klaffenden, zynischen Unrecht zwischen Arm und Reich führt?

    Aufstehen, nicht mitmachen!

    Im Früh- und Hochmittelalter stellten die Kirchen sich einer gewaltigen zivilisatorischen Aufgabe, die durchaus heilsgeschichtlich gemeint war. Sie haben die Bewohnbarkeit Europas für eine große Menge von Christenmenschen als Pionierleistung vorangetrieben. Und sie sollten sich klar werden, dass heute mehr auf dem Spiel steht als damals. Tausende, ja Hunderttausende christlicher Aktivisten haben das ja auch längst begriffen. „Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ – in diesem Leitwort des sogenannten konziliaren Prozesses haben sie sich zu ökumenischer und zivilgesellschaftlicher Aktion zusammengefunden: ATTAC wird vom Ökumenischen Rat der Kirchen unterstützt und wurde von der katholischen Pax Christi mitbegründet; und der Kardinal Tettamanzi zog schon eine Woche vor dem berüchtigten Gipfel mit seinen jungen Freunden durch Genua, mit genau den Forderungen, die dann von der Internationale der Globalisierungskritiker erhoben wurden.

    Was würde geschehen, wenn sich die Kirchen vernehmbar und in erkennbarer Praxis dem Weg in den kollektiven Selbstmord, der Alternativlosigkeit des Totalen Marktes widersetzen würden? Es gibt recht klare Indizien dafür, etwa das Schicksal der Befreiungskirchen in Lateinamerika. Und es wäre naiv, anzunehmen, dass das zurückschlagende Imperium hierzulande, in den Fleischtopfkulturen, zimperlich vorginge, wenn die Kirchen zu deutlich würden. Aber genau das darf für christliche Kirchen überhaupt kein Entscheidungskriterium sein.

    Natürlich würde ein solcher Kurs den Sturz der Kirchenaktien an den Meinungsbörsen zunächst beschleunigen. Aber es hat keinen Zweck, aus Angst vor den Minen ringsum den Exodus aufzuschieben; stehen zu bleiben, wo man steht, und so todsicher zu verhungern. Klüger, auch in einem weltlichen Sinn, ist es, aufzustehen, wieder das Zeichen unter den Völkern zu werden und dem zynisch akzeptierten, als alternativlos verkündeten Untergang die Stirn zu bieten.

    Die Theologie ist längst dahin unterwegs, das wissen die Verantwortlichen auch; sie wird vorläufig, solange sie die verbliebenen Sonntagskirchgänger verschrecken könnte, auf Eis gelegt. Sonst könnten die Kirchen womöglich als Verbündete des Umsturzes begriffen werden – wie die Befreiungstheologie im so genannten Rockefeller-Bericht der sechziger Jahre und im Santa-Fe-Papier von 1979, angefertigt für Ronald Reagan. Dass die christliche Botschaft der Evangelien und der authentischen Paulus-Briefe nichts anderes war, ist kaum zu leugnen – auch wenn der riesige Block der Jahrtausende seit Konstantin uns lange genug getrennt hat. Das Christentum wird dann auch für das naive Auge klar erkennbar sein, weil es seine „Kernkompetenz“ wieder gefunden hat.

    Quelle: SZ vom 03.04.2002
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       (SZ vom 03. April 02)

    Hört auf die Nomaden!

    Die Kirche, das Geld und die Angst vor dem Dritten Weg

    VON ULRICH SCHNEIDER

    Am Anfang der modernen Kulturentwicklung war der Mord. Das sagt nicht nur die Bibel mit der Erzählung von Kain und Abel und der Vertreibung Adams und Evas durch „Kerubim“ mit „blitzendem Schwert“, das sagt auch die Archäologie: Vor 5000 bis 6000 Jahren wurde die Ressource Ackerland knapp, nachdem die Menschen in den friedlicheren jungsteinzeitlichen Jahrtausenden davor Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht erlernt, sich sprunghaft vermehrt und über die fruchtbaren Gebiete ausgebreitet hatten. Nun wurden neue Lebenssicherungstechniken entwickelt wie Hirtennomadentum und handwerkliche Spezialisierung. Zugleich nahm die Zahl der Festungen und Waffen zu.

    In unserer Reihe zur Modernität der protestantischen Kirche schreibt heute mit Ulrich Schneider ein Pfarrer und Theologe. Der Autor ist an der Evangelisch-Lutherischen Philippuskirche zu München tätig. Von ihm erschien: „Theologie als christliche Philosophie“, Berlin 1999.

    Die Engpässe führten zu Verteilungskonflikten und schließlich zu den frühen Großreichen, in denen sich Macht und Technik verbündeten. In diesem Zusammenhang wurden die Rationalität und das Ich-Bewusstsein geboren sowie die Grundlage von Judentum, Christentum und Islam: An die Stelle der konkreten Erd- Mutter trat ein abstrakter Himmels-Vater. Während sich die Göttin ihre Macht mit anderen Kräften, mit dem Regen-, Wind- und Sonnengott, teilte, duldete der „Gott der Väter“ niemanden neben sich. Zugleich verhieß er dem Nomaden Abraham neue Lebensgrundlagen in der Ferne, in der Zukunft. Seitdem gibt es das Prinzip Hoffnung.

    Das bewährte Rezept der Großreiche, Kampf und Kreativität zu verbinden, hat das Antlitz der Erde in einem mehrtausendjährigen Prozess gezeichnet, am gewaltigsten durch die vorläufige Endphase, die Industrialisierung. An die Stelle der antiken Expansionsfeldzüge ist das wirtschaftliche Wachstum getreten, das nun das Überleben der Menschheit bedroht. Als einzige Instanzen haben die Religionen die Erinnerung an ein Paradies bewahrt, an die Zeit vor dem „Sündenfall“ der Konfliktgesellschaft, daran, dass der Anfang eben nicht Mord war, sondern Leben schaffendes Wort. An den Religionen ist es, der Menschheit den Schlüssel in die Hand zu drücken, um diesen Prozess abzuschließen. Carl Amery sieht zu Recht die Funktion der Kirchen genau hierin (SZ vom 3. April). Sie sollen nicht auch noch mithelfen, das bestehende System nach dem Motto „there is no alternative“ festzuschreiben.

    Das Erkennen des Wachstumshebels – und der Alternative – wäre unsere „Kernkompetenz“, wäre „Evangelium“, zu deutsch: „gute Nachricht“. Es wäre keine Anbiederung beim Publikum und doch attraktiv. Denn „im ganzen heißt die Reformation: Freimachung des Menschen aus Knechtschaft“ (Carl Heinz Ratschow). In seinen 95 Thesen ging es Luther um soziale Gerechtigkeit: „Man soll die Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen.“ Er wetterte gegen die sinnlosen Ausgaben, zu denen man die Menschen damals brachte: „Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde.“

    500 Jahre nach Luther stellt sich erneut die Frage, ob die Kirche der Reformation Komplizin eines gesamtgesellschaftlichen Betrugs sein will, oder ob es ihr noch einmal gelingt, die ganze Kraft ihrer befreienden Tradition zu wecken. Viele Leute spüren, dass sie im Alltag erpresst und betrogen werden. Sie ahnen, dass etwas nicht stimmen kann, wenn die Wirtschaft Jahr für Jahr produktiver wird, aber im Portemonnaie immer weniger bleibt. An der Stelle der mittelalterlichen Ablassprediger steht heute eine massenmediale „Heils“-Propaganda für Problem erzeugende Lösungsversuche: Die Arbeitslosigkeit soll mit „Wachstum“, die Verarmung mit „Tariflohn“ bekämpft werden. Umwelt und Entwicklungsländer gehen an diesem Antagonismus zugrunde, aber die Kapitalgewinne wachsen stetig.

    Die in ihrer Existenz bedrohten Theaterhäuser versuchen sich vom Würgegriff des Tarifsystems zu befreien. Wie diese ist auch die Kirche als personalintensiver Betrieb Opfer der erstarrten Strukturen. Aber gleichzeitig gehört sie zu den Tätern, zu den willfährigen, korrumpierten Institutionen – solange sie nicht die Frage stellt, was denn heute die angemessenen Instrumente zur Beteiligung der Menschen am Produktionsfortschritt wären.

    Dabei hat sich die Evangelische Kirche als Arbeitgeberin – lange vor Blair und Schröder – einen „dritten Weg“ auf die Fahnen geschrieben, die Alternative zu althergebrachtem Lohndiktat und modernem Streikrecht. Gewerkschaften werden nicht als Verhandlungspartner akzeptiert. Die Begründung lautet in den Dienstverträgen: „Dem Auftrag der Kirche, Versöhnung zu verkünden, Glauben zu wecken, Liebe zu üben, widerspräche ein Arbeitskampf im kirchlichen Bereich.“ Wie wahr! Doch bei näherem Hinsehen erweist sich dieser dritte Weg als Trittbrettfahrt des Kampf-Weges: Eine paritätisch besetzte Kommission übernimmt jedes Jahr für die kirchlichen Mitarbeiter die Tarife, die die Gewerkschaft für den nichtkirchlichen Bereich ausgefochten hat. Wie ein wirklicher „dritter Weg“, eine nicht durch Kampf erzielte Einkommenssicherung über andere Wirtschaftsfaktoren anstelle steigender Arbeitslöhne aussähe, das wäre der eigentliche Punkt, an dem sich eine ökonomische Beratung für die Kirche und für alle lohnte.

    Das Wachstum könnte in ein Gleichgewicht überführt werden. Durch die Industrialisierung ist erstmals seit der Jungsteinzeit wieder die Chance geschaffen worden, Engpässe und damit Konflikte und Machtmonopole zu beseitigen: Was die Generationen vor uns an Wissen erworben, an Infrastruktur und Produktionsanlagen hinterlassen haben, hätte die Kapazität, uns zu ernähren, flössen die Erträge direkt zu den Menschen und nicht großteils wieder in neues Wachstum. Eine solche Nutzung, ein aus Maschinen- und Energiebesteuerung geschöpftes Zusatzeinkommen für jeden würde genau jene Tariflohnsteigerung überflüssig machen, die stets aufs neue Investitionen, Pleiten, Armut und Umweltzerstörung erzwingt.

    Doch noch wird dieses Thema ausgeblendet und stattdessen nur Symptombekämpfung betrieben: Stellenstreichungen und andere „Sparmaßnahmen“ auf dem Rücken der Menschen. Noch ist wohl diese Fantasielosigkeit gemeint, wenn uns die Berater auffordern, von der Wirtschaft zu lernen. Doch Gottes Hände tragen uns mit dem, was aus dem Innersten heraus beflügeln kann und was mächtiger ist als jede Unternehmensberatung. Die Erinnerung an den Anfang schenkt die Vision der Zukunft. Im ältesten Evangelium sagt Jesus: „Prallvoll ist der Augenblick. Nahe gekommen ist göttliche Macht. Denkt um, steuert um! Vertraut der guten Nachricht!“

    Quelle: SZ vom 11.04.2002

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       (SZ vom 11. April 02)

    Da ist der Augenblick

    Wider den Alarmismus der Besorgten

    Von Matthias Schreiber

    Wäre die Bergpredigt die Bergpredigt, wenn Jesus eine Unternehmensberatung damit beauftragt hätte, für sie ein Marketing-Konzept zu entwickeln? Wäre ihr „Selig sind, die Frieden stiften“ oder ihr „Selig sind die Barmherzigen“ dann seit zweitausend Jahren in aller Munde und womöglich in noch mehr Herzen? Wäre die Goldene Regel, jenes „Was du willst, das man dir tu, das tu du anderen“, dann in der Geschichte sichtbarer erfüllt worden? Die Frage ist genauso kitzlig wie jene, ob die Bergpredigt die Bergpredigt geworden wäre, wenn Jesus für sie einen Landesbischof oder Kardinal als Ghostwriter zu Rate gezogen hätte.

    In unserer Reihe zur Modernität der Kirchen äußert sich heute Matthias Schreiber. Er ist Pastor und Öffentlichkeitsdezernent der Evangelischen Kirche im Rheinland.

    Dass dem dogmatisch-theologischen Streit über die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre eine öffentliche Debatte über die Grenzen und Möglichkeiten zur Modernisierung der evangelischen Kirche folgen würde, konnte niemand wissen. Und angesichts kirchlicher Segnungen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder kirchlich erteiltem Scheidungssegen fragt man sich, was wirklich dahinter steckt. Was auch immer es sein mag, ein Modernisierungsproblem im Allgemeinen ist es ebensowenig wie ein Modernismusproblem; moderne Methoden der Kommunikationstechnik gehören in den Kirchen längst zum Alltag. Auch der Verhältnisbestimmung zwischen Glaube auf der einen sowie modernen Wissenschaften auf der anderen Seite hat sich die evangelische Kirche seit der Aufklärung gestellt und tut es gemeinsam mit der katholischen Schwesterkirche dieser Tage in neuer, bemerkenswerter Weise bei der Biomedizin und der Genforschung.

    Aber um was geht es dann? Es geht um die Frage nach dem Verhältnis der Kirche zur Wirtschaft. Und zwar in dem Sinne, wie sich die Kirche zu dem modrig-kalten Mehltau des auch sie selber erfassenden Ökonomismus verhalten soll. Da ist die Frage, wie weit Mutter Kirche, die von sich selber sagt, sie sei der größte Arbeitgeber nach Vater Staat, als Unternehmen unter die Lupe genommen werden darf, schnell abschlägig beantwortet. Doch es wäre zu einfach, nach dem Motto zu verfahren: Wer für alles und jedes offen ist, kann nicht ganz dicht sein.

    Stets hat sich nämlich die Kirche der Erkenntnisse und Errungenschaften der jeweiligen Zeit bedient. Man denke etwa an die Verbindung von Reformation und Buchdruck. Die Reformatoren nutzten entschieden die neue Technik, um ihre Botschaft zu verbreiten. Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Verhältnis der Theologie zur Psychologie zu klären war, verweigerte man sich ebenfalls nicht. Psychologische Erkenntnisse wurden und werden in der Kirche bis heute zu Hilfe genommen, um anderen zu helfen – etwa in den kirchlichen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen; aber alle Psychologie kann die christliche Botschaft nicht ersetzen.

    Analog dazu gilt: Die Kirche handelte wider besseres Wissen, prüfte sie die Erfahrungen der Wirtschaftswissenschaften nicht auch im eigenen Laden. Das hat sie schon immer getan. Notwendig ist eine solche Prüfung, weil sich auch in der Kirche manche gewachsenen Strukturen verwachsen haben. Mich jedenfalls interessiert die gesicherte Antwort einer Unternehmensberatung durchaus, welchen Sinn es haben soll, dass eine Landeskirchengrenze das Ruhrgebiet zerteilt.

    Religionslehrer begegnen heute in der Regel mehr Kindern und Jugendlichen als die Pfarrer in den Kirchengemeinden. Da kann die qualifizierte Beantwortung der Frage, wie sie in ihrer Arbeit noch besser unterstützt werden können, schnell spielentscheidend werden. Auch wer den Terminkalender eines Bischofs kennt, der sich oft strenger zeigt als die Knute des Pharao, sehnt sich nach sachkundigen Vorschlägen für die Abschaffung von Doppelstrukturen.

    Die Philosophie unterscheidet „notwendig“ von „hinreichend“. Alle noch so sachverständige Beratung über Unternehmensziele, Wirtschaftlichkeit und Marketing reicht nicht aus, wenn es ans Eingemachte geht. Genau an dieser Stelle hat die Kirche keine Möglichkeit, sich „von Außen“ Rat zu holen. Hier beginnt für sie die Arbeit: Was bedeutet der Glaube in einer Zeit, in der viele der Volksaktie hinterherlaufen und nicht mehr der Volkskirche? Wo vielfach der erste Blick den Wertpapieren gilt, hat sie zu fragen, welche Werte sie vor dem Hintergrund ihrer Jahrhunderte währenden Erfahrung und in Verantwortung vor ihren heiligen Schriften diesem Trend entgegensetzt. Diese Fragen darf sie auf keinen Fall delegieren.

    Was ist eigentlich der Auftrag der Kirche in der Welt? Das beantwortet ihr kein Unternehmensberater Barrenstein, wenn er der Kirche den Zölibat in politischen Dingen verordnet (SZ vom 8. März). Das beantwortet ihr auch kein Schriftsteller Amery, wenn er den zentralen Verkündigungsauftrag der Kirche im Kampf gegen die Ökonomie sieht (SZ vom 3. April). Das beantwortet ihr auch kein Landesbischof Friedrich, wenn er sich über die Soziologie des Pfarrhauses auslässt (SZ vom 19. Februar).

    Dröhnendes Erz, lärmende Pauke

    Der Auftrag der Kirche sei es nicht, die Welt zu verändern, wenn sie aber ihren Auftrag erfülle, verändere sich die Welt, hat Carl Friedrich von Weizsäcker einmal gesagt. Das hört sich geheimnisvoll an, wird aber klarer, wenn man die Bibel zur Hand nimmt: Sie ist in gleicher Weise ein Buch voller Lebensweisheit und Erlösungsnachricht. Dort werden Fragen besprochen, die im Callcenter ebenso unbeantwortet bleiben wie in den Talkshows. Wer einmal gehört oder gelesen hat, was Paulus im 1. Korintherbrief, Kapitel 13, über die Liebe sagt, der nimmt anderes mit als die „Wa(h)re Liebe“ im Fernsehen je zeigen kann. Viele haben das billige Toastbrot gründlich satt, das für alle Lebensfragen und in allen Lebenslagen feilgeboten wird. Die schnelle Antwort sättigt nicht, wenn es ans Wesentliche geht: Warum ich? Woher kommt das Schwere in meinem Leben? Woher das Leid in der Welt? Was bleibt? Worauf ist Verlass? Das sind einige der Fragen, auf die die Kirche antworten soll und gute Antworten hat.

    Dabei geht es ihr nicht um die eigene Zukunft – die Flurbereinigung im eigenen Haus steht hinten an. Da nützt alle Unternehmensphilosophie nichts mehr und letztlich auch alle Sozialarbeit nichts, was einzusehen den Verantwortlichen der Kirchen besonders schwer fällt. Da geht es lange nicht mehr um römisch oder protestantisch, um anglikanisch oder orthodox. Da ist das Ziel nicht mehr die volle Kirche, sondern befreite Menschen, die ihr Glück nicht dem Zufall und ihre Freiheit keiner Aktie, keiner Partei, sondern Gott selber verdanken. Darauf hinzuwirken ist der Auftrag der Kirche in einer Zeit, in der Freiheit das wohl am häufigsten verwendete, missverstandene und missbrauchte Fremdwort ist. Thomas von Aquin hat es mit dem Lebenswort umschrieben: Wer über den Augenblick herrscht, der herrscht über das Leben. Mit einem solchen Wort im Rücken, hat die Kirche jede nur denkliche Freiheit, auch die, der Ökonomisierung aller Lebensbereiche gelassen und wirksam zugleich zu begegnen.

    Quelle: SZ vom 24.04.2002
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       (SZ vom 24. April 02)

    Tröstliche Umwege

    Wie die Kirche ihren eigenen Geist verrät

    Von Jürgen Werner

    Die Modernität der Kirche - nichts verrät mehr über den fragwürdigen Zustand der Kirche als diese Formel. So unscheinbar sie sich liest, so unschuldig sie mit klerikalem Pathos als Ziel einer amtlich verordneten Veränderung ausgerufen wird, enthält sie in Wahrheit die Grundzüge eines gewaltigen prinzipiellen Konflikts. Täuschen wir uns nicht: Modernität ist keine Eigenschaft, kein Attribut, das die Kirche neben anderen wie Lebendigkeit, Offenheit oder Streitbarkeit folgenlos tragen könnte. Modernität ist vielmehr ein Legitimationstitel. Mit ihm wird eingeklagt, auch heute noch eine Rolle zu spielen, möglichst eine gewichtige. Und es wird eine Regel akzeptiert, nach der dieses Privileg vergeben wird. Modernität gilt als Existenzberechtigungsnachweis, als ein geheimer Zugangscode zum Ensemble zeitgenössischer Lebensbedingungen.

    Im vorletzten Teil unserer Reihe zur Modernität der Kirche schreibt der katholische Theologe und Management-Berater Jürger Werner. Er ist zudem Professor für Philosophie und Rhetorik an der Privaten Universität Witten/ Herdecke.

    Der Wille zur Modernität der Kirche wird also zu Recht verstanden als eine Reaktion auf den Zweifel an deren Notwendigkeit in der Moderne. Und Notwendigkeit meint unter modernen Voraussetzungen immer Nützlichkeit. Wozu ist etwas brauchbar: Das ist das entscheidende Kriterium, an dem sich messen lassen muss, wer sich einmal eingelassen hat auf Anerkennungsfragen dieser Art. Die Wirtschaft hat diesen Maßstab zum obersten Grundsatz ihres eigenen Credos erhoben. Es kommt öfter vor, als es die flapsige Kolportage unterstellt, dass einer, der nicht in der Lage ist, im Aufzug zwischen dem ersten und vierten Stockwerk seinen Platz in der Wertschöpfungskette nachzuweisen, für überflüssig erklärt wird. Will sich die Kirche auf diesen ökonomistischen Gestus einlassen?

    Der bayrische Landesbischof Johannes Friedrich würde das wohl entschlossen bestreiten. Ihm ginge es lediglich um die Einsicht, notiert er, dass die Kirche „nicht mehr der privilegierte Sinnvermittler“ sei, und er zitiert das Schlüsselwort der Ökonomie: Sie befinde sich neuerdings „im Wettbewerb“, sei „heute nicht mehr selbstverständlich“ und müsse sich daher den veränderten Bedingungen anpassen, zeitgemäße Servicestrukturen einrichten oder jährliche Personalförderungsgespräche ansetzen (SZ vom 19. Februar). Als ob die Kirche je anders agiert hätte als in dem Bewusstsein, gerade nicht selbstverständlich zu sein und sich stets auseinandersetzen zu müssen mit mächtigen sinnstiftenden Institutionen, sei es die spätantike Gnosis, die Astrologie der Renaissance, die Geheimbünde des Absolutismus, das vornazistische Geraune der Jugendbewegung.

    Um einen Platz in dieser Welt, um Gehör bei den Menschen musste die Kirche schon immer kämpfen, und sie täte gut daran, das als ein unveränderliches Los anzunehmen. Wer sich auf jemanden beruft, von dem es im Testament seit seiner Geburt heißt, dass er keinen Raum in der Herberge fand, dass Vögel ihre Nester, Füchse ihre Bauten haben, er aber keinen Ort besitzt, wo er sein Haupt hinlegen könne, wer seine Existenz auf einen Menschen gründet, dessen besondere Heimatlosigkeit besiegelt wurde damit, dass er aus dieser Welt vertrieben wurde und ans Kreuz genagelt, der muss sich nicht wundern, dass seine Bemühungen, von dieser Welt als brauchbar akzeptiert zu werden, nicht reibungslos verlaufen.

    Killeraplikation Mensch

    Der Hinweis auf eine angeblich neue Konkurrenzsituation für die Kirche ist als Rechtfertigungsgrund willkürlich herbeigezogen und taugt kaum als Argument für betriebswirtschaftliche Veränderungsanstrengungen. Die entscheidende Frage lautet nicht, wie man „Vorgehensweisen erfolgreicher Unternehmen für die Kirche nützlich macht“ (Peter F. Barrenstein in der SZ vom 8. März). Nicht die Kirche hätte von der Wirtschaft zu lernen nach irgendeinem Best-Practice-Modell, sondern die Ökonomie von der Kirche. Wer hier Anpassung fordert, und sei es auch nur eine Adaption der Strukturen an moderne Management-Instrumente, der verkennt, dass diese einer Ideologie gehorchen, zu der schon die Existenz der Kirche einen Widerspruch darstellt. Nicht das ist der Leitgedanke, „mit möglichst wenig Mitteleinsatz das bestmögliche Ergebnis“ zu erzielen, wie es in schönster Berater-Manier klingt. Vielmehr kommt alles darauf an zu verstehen, dass eine bestimmte Ineffizienz, Umständlichkeit und Umwegigkeit zur praktischen Konsequenz einer lebensweltlichen Botschaft gehören, die das Misslingen gerade nicht als „Killerapplikation“ betrachtet, sondern als den Ort, an dem sich Menschen als menschlich erweisen sollen, weil der Gott, von dem die Rede ist, sich als ein Liebender vorstellt, der es im Äußersten ausgehalten hat. Die Kirche ist eine Spezialistin des Scheiterns und identifiziert dieses – wider alle ökonomische Vernunft – als Inbegriff eines geglückten Anfangs. Wie sollte man sonst erklären, dass der Tod eines Menschen am Kreuz als Grund bezeichnet wird für die Lebendigkeit des Menschlichen?

    Nun wird darauf verwiesen, dass ein Umbau von Organisations-Strukturen noch keinen Angriff auf die Sache selbst darstelle. Der Hinweis freilich ist so trivial wie falsch. Nicht erst der Berliner Philosoph Hegel, der von den theologischen Geheimnissen offenkundig mehr verstand als die meisten Pfarrer, hat darauf aufmerksam gemacht, dass Formen nichts Äußerliches sind, die man verändern könnte, ohne den Inhalt zu berühren. An den Symbolen sollt ihr sie erkennen. Es ist ein Unterschied im Ganzen, ob man von Effizienz spricht statt von Erleichterung, von Systemen redet statt von Personen, ein Logo in den Vordergrund stellt statt das Kreuz, den Erfolg zum Kriterium erhebt statt das Scheitern als ein Gottesprädikat zu verstehen. Wo es um den Geist einer Sache oder Institution geht, versagen die Methoden.

    Bei Zeus in die Schule gehen

    „So viele Worte in einer großen Stadt in jedem Augenblick gesprochen werden, um die persönlichen Wünsche ihrer Bewohner auszudrücken, eines ist niemals darunter: das Wort ,erlösen‘.“ Erlösung klassifiziert Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ als das unmoderne Wort schlechthin. Denn es beschreibt keine Fähigkeit, die Menschen einander zukommen lassen können, kein Talent, über das sie verfügen. Aber es ist ein Hauptwort der Kirche, in dem sie nicht nur ihre prinzipielle Unmodernität signalisiert, sondern mit dem sie auch vertritt, dass es Situationen gibt, in denen das letzte Wort nicht von Menschen gesprochen wird – auch wenn es höchst menschlich genannt zu werden verdient.

    Die Kirche hatte sich mit den Consultants von McKinsey Problemlöser ins Haus geholt. Problemlöser sind Menschen, die es nicht darauf ankommen lassen wollen, dass man auf Erlösung angewiesen ist. Das ist nichts Problematisches; fatal wird es nur, wenn man sich deren Horizont zu Eigen macht, aus dem sie ihre Vorschläge rekrutieren. Lange ist es her, dass „der Berater“ als ein göttliches Attribut angesehen war wie noch in den mythischen Reden eines Hesiod. Das waren Zeiten, in denen er zuständigkeitshalber die Rätsel dieser Welt deutete. Die Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Schritt vom Rätseldeuter zum Problemlöser vollzogen hat um den Preis, alles, was geheimnisvoll ist, nur noch unter dem Aspekt des Unaufgeklärten zu sehen. Carl Améry hat Recht, wenn er darin einen totalitären Zug des Marktes sieht (SZ vom 3. April). Die Kirche, die sich diesem Sog nicht entzieht, begeht Götzendienst. Denn in dem Maße, wie sie den Problemlösern das eigene Haus überlässt, verliert sie den Respekt vor dem, was sich nicht fassen lässt. Früher hieß das Fassungslose „Geist“, heute ist es ein Skandal für jede Controller-Mentalität. Als Expertin des Fassungslosen aber hat die Kirche mehr verdient als Ratschläge dieser Art. So wie sie auch selbst mehr bietet als Rat: Sie hat Trost.

    Quelle: SZ vom 14.05.2002
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       (SZ vom 14. Mai 02)

    Sie säen nicht und kentern doch

    Können Glaube und Wirtschaft dieselbe Sprache sprechen? Zum Abschluss der SZ- Debatte über die Modernität der Kirche


    VON ALEXANDER KISSLER

    Ein alter Mann verlässt das Flugzeug mit einem Lift, müht sich in einen Rollwagen, sitzt darin wie festgeschraubt, kann den Kopf kaum heben: Johannes Paul II. in Bulgarien. Die Bilder zur Hauptsendezeit schreiben das Drama fort vom gebrechlichen Greis. Den Spekulationen, er könnte zurücktreten, begegnet der Papst mit dem Wort, Jesus sei auch nicht vom Kreuz herabgestiegen. Die Öffentlichkeit aber mag nicht begreifen, dass der Nachfolger Petri kein Fußballspieler ist, der aus Formschwäche die Weltmeisterschaft absagen könnte, kein Manager, den der Aufsichtsrat zur Demission drängt. Johannes Paul folgt seiner Berufung, und darum kann nur der himmlische Vorgesetzte ihn abberufen. Hire and fire ist das Prinzip bedrängter Unternehmen, nicht der Kirche.

    Vor dem Hintergrund eines globalen Verdrängungswettbewerbs entdecken auffallend viele nachdenkliche Menschen die ethischen Vorzüge des Christentums: Peter Sloterdijk prophezeit ein grausames 21. Jahrhundert. Mit Nietzsche nennt er es neo-antik, weil nun endgültig „die Wiederholung der Antike auf der Höhe der Modernität“ anstehe. Künftig, so Sloterdijk, werde ein innerweltlicher Fatalismus herrschen: Im Hier und Jetzt, am messbaren Erfolg entscheidet sich, ob ein Leben gelingt. Die Möglichkeit eines „Rückspiels“ im Jenseits, wie es bisher vom „Balkon am Petersplatz“ aus versprochen wurde, habe keine Relevanz mehr. Das „Mitleid mit den Verlierern“, das durch das Christentum in die Welt kam, sei nicht mehr gefragt.

    Der Propagandist der zynischen Vernunft hat so letzte Woche auf dem Deutschen Trendtag die christlichen Tugenden gewürdigt. Sloterdijks Ruf nach einer „christlichen Dämpfung“ der Kämpfe ums schönere Leben, um höhere Löhne und elastischere Körper, markiert eine Abkehr vom moralfreien Diskurs.

    Als im vergangenen Jahr der Friedenspreis des Buchhandels an Jürgen Habermas verliehen wurde, warnte dieser den liberalen Staat davor, die „religiöse Herkunft seiner moralischen Grundlagen“ zu verleugnen. Ebendieses Bewusstsein vom religiösen Fundament des Staates teilt Joschka Fischer. In seinem Buch „Die Linke nach dem Sozialismus“ schreibt er: „Eine Ethik, die sich nicht auf die normative Kraft einer verbindlichen Religion stützen kann, wird es schwer haben, von Dauer zu sein.“

    Wirtschaftsobjekt der Begierde

    Sloterdijk, Habermas, Fischer unterscheiden sich im Rang, den sie dem Christentum zusprechen, einig sind sie sich in der Diagnose: Eine vollkommen entchristlichte Gesellschaft wäre barbarisch. Wenn kein Individuum sich dem anderen verbunden weiß durch den gemeinsamen Schöpfer, wenn niemand daran glaubt, davon redet und danach handelt, dass jedem Menschen das Heil fest zugesagt ist – dem jungen wie alten, dem männlichen wie weiblichen, dem erfolgreichen und dem erfolglosen –, dann vertrocknet die Gesellschaft zur gnadenlosen Nützlichkeitswüste. Wie aber kann die Botschaft Jesu weiter getragen werden in einer Welt, deren Hunger nach Sinn gepaart ist mit Ungeduld? Diese Frage stand im Mittelpunkt unserer SZ-Reihe zur Modernität der Kirche.

    Die Debatte löste sich rasch von der unwiderlegten Behauptung Christian Nürnbergers, die evangelische bayerische Landeskirche wolle ihre Pfarrer mit Managementmethoden bewerten. Peter Barrenstein von McKinsey verteidigte jene „Effizienzaspekte“, die sein Arbeitgeber der protestantischen und katholischen Kirche näher bringt. Gert Scobel hingegen kritisierte die „Übernahme der Kirchenführung durch Berater“, Carl Amery geißelte die „Unfähigkeit zur Zukunft“, die den Befürwortern des „Totalen Marktes“eigen sei. Die Kirche müsse Nein sagen, wenn die neoliberale Konsensmaschine Schreckgespenste gebiert. Als mehrheitsfähig erwies sich rückblickend Friedrich-Wilhelm Marquardts Forderung nach „ehrlicher Erfolglosigkeit und hartnäckiger Abseitsstellung“.

    Schon immer taten Kirche wie Gläubige sich schwer mit der Erkenntnis, dass die Geldgier die Wurzel aller Übel ist (1 Tim 6,10). Besonders lehrreich ist der Versuch Adam Müllers, den Staatshaushalt „auf theologischer Grundlage“ zu errichten. Der Romantiker Müller war 1820 davon überzeugt, dem Neuen Testament finanzpolitische Direktiven entnehmen zu können: So wie Gottvater, Christus und der Heilige Geist eins seien, müssten bei jeder menschlichen Betätigung die „drei Stücke Kraft, Werkzeug und Material“ verschmelzen. Als Werkzeug begriff er „das Volk der Arbeiter“, als Material oder Kapital „das Volk der Rentenierer“, die von ihrem Eigentum leben. Damit diese Gruppen keine Feinde werden, bedürfe es der Kraft „von oben“: „Nur durch die Religion ist das Arbeitssystem einer Nation mit dem Kapitalsysteme in Übereinstimmung zu bringen.“

    Das Credo des Cabrios

    Adam Müller ging von der versöhnenden Wirkung des Heiligen Geistes auf die Antagonismen einer in Arbeitgeber und Arbeitnehmer zerfallenden Gesellschaft aus – eine Ahnung solch „christlicher Dämpfung“ vermittelt heute die Tarifpartnerschaft. Damit Müller sein Denkmodell begründen konnte, musste er aber in den Jargon seines Antipoden, Adam Smith, verfallen. Müller lehnte „ein strenges Privateigentum von Grund und Boden“ ab und definierte zugleich das Individuum primär über dessen Leistungsfähigkeit. Von der Kapitalkraft Mensch hin zum verdinglichten Wirtschaftsobjekt war es – entgegen Müllers Absichten – nur ein kleiner Schritt.

    Ähnliche Gefahr droht, wenn das Lob für „Effizienzaspekte“ Anleihen nimmt beim Neoliberalismus. Solche Überlegungen mögen angebracht sein auf eng begrenzten innerkirchlichen Feldern, etwa beim zersplitterten deutschen Protestantismus, sobald aber von Kirchenseite eine öffentliche Debatte mit den Begriffen des Lean Management geführt wird, büßt die Frohe Botschaft ihre Leuchtkraft ein. Sie wird ununterscheidbar, wenn über sie im Stile eines Produktes geredet werden kann. Die Produkt- und Werbesprache ist die schlechthin substanzlose Rede und borgt sich den Schein des Wesentlichen bei der Religion: Ein Damenrasierer „weckt die Göttin in Dir“, ein Cabrio ist ein „Tempel für den Gott des Windes“, ein Mobilfunkbetreiber verspricht Transzendenz, „es sollte keine Grenzen geben, die uns unsere Möglichkeiten nehmen. Wie frei sind Sie?“

    Freiheit bedeutet laut Viag Interkom, „alles zu tun, was man tun möchte“. Klarer hat sich die werbetreibende Industrie bisher nicht zur neo- antiken Grausamkeit bekannt. Der Persilschein für Egoismen jeder Art ist das Resultat, wenn die christlichen Vorbehalte fallen. Der alte Mann aus dem Petersdom weiß, dass er Fels sein muss und kein Fähnchen im Winde, um den Ideologien des Machbaren entgegenzuwirken; er weiß, dass Gott der einzige „Macher“ seiner Schöpfung ist; er hat erkannt, was die Stunde schlägt. Paul Tillich nannte spezifisch protestantisch jene Hartnäckigkeit, die Johannes Paul II. praktiziert: Er verkündet radikal die „menschliche Grenzsituation, die erreicht ist, wo die menschliche Existenz unter die unbedingte Bedrohung gestellt ist.“ Die Zeit ist gekommen.

    Quelle: SZ vom 25.05.2002
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       (SZ vom 25. Mai 02)
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