Die große Sehnsucht/Von
Fulbert Steffensky (Auszüge)
Spiritualität als gebildete
Aufmerksamkeit
... Was aber ist dann Spiritualität? Es ist geformte
Aufmerksamkeit. Zunächst: Spiritualität ist Aufmerksamkeit. Ich
möchte auf eine Legende von Elisabeth von Thüringen zurückgreifen,
die uns diese Aufmerksamkeit erschließen kann. Auf ihrem Weg nach
Eisenach sah Elisabeth mitten in einem Unwetter ein Kind auf einem
Holzstoß sitzen, das in Lumpen gekleidet war und aus dessen Kopf
zwei Augen sie anblickten, als ob die Not der ganzen
Welt aus ihnen spräche. Sie neigte sich zu dem Kind und fragte:
„Kind, wo ist deine Mutter?“ Die Legende fährt fort: Da wuchs an
dieser Stelle ein Kreuz empor, an dem mit ausgespannten Armen
Christus hing, der sie mit den Augen des Kindes ansah. Was ist eine
spirituelle Erfahrung? Es ist die Erfahrung der Augen Christi in den
Augen des Kindes. Es ist die Erfahrung der Nacktheit Christi im
nackten Bettler, den Martinus trifft; die Erfahrung des hungernden
Christus im Hunger unserer Geschwister. Wer in Gott eintaucht,
taucht neben den Armen wieder auf, sagt der französische Bischof
Galiot. Es gibt keine Gotteserkenntnis an der Barmherzigkeit vorbei.
Spiritualität ist nicht nur Aufmerksamkeit für das Unglück, sie ist
auch die Wahrnehmung Gottes und seines Spiels im Glück der Menschen,
in der Schönheit der Natur und im Gelingen des Lebens. Ich möchte
mit einem Satz von Bonaventura einen Geist zitieren, der eher im
Katholizismus als im Protestantismus seine Heimat hat: „Alles
Geschaffene ist Schatten, ist Echo, ist Bild, Spur, Ebenbild und
Aufführung.“ (Omnes creaturae sunt umbrae, resonantiae et picturae,
sunt vestigia et simulacra et spectacula.) Nichts also ist nur, was
es ist. Es hat Anteil an der Heiligkeit Gottes, weil es sein Echo
und seine Spur ist. Die Heiligkeit des Lebens will unsere Ehrfurcht
und Ergriffenheit. Vielleicht bewahrt uns nur diese Auffassung vom
Leben und von den Dingen davor, dass wir sie benutzen, als hätten
sie kein Geheimnis und als ständen sie uns nur zur Verfügung. Als
Echo Gottes sind sie für sich da, und sie sind für Gott da.
Vielleicht hat die Entzauberung der Welt dazu geführt, dass wir in
grenzenlos imperialer Geste uns alles unterwerfen. Wer kein Tabu
kennt und die Heiligkeit der Dinge nicht sieht, wird zu ihrem
Zerstörer. Der Satz von der Heiligkeit der Dinge hat also durchaus
eine politische Bedeutung. Sie hindert uns daran, die reinen
Verfüger und die ungebremsten Herrn zu sein. Könnte es sein, dass wo
Gott der einzig Unverfügbare ist, alles andere bedenkenlos zur
Verfügung steht?
Was also ist eine spirituelle Erfahrung? Sie ist keine
Selbsterfahrung, sie ist eher Selbstvergessenheit. Elisabeth nimmt
sich nicht selbst wahr, sie liest die Augen Christi in den Augen des
Kindes. Wenn Paul Gerhardt das Lob des Lebens singt in seinem Lied
„Geh aus mein Herz“; wenn er der Gärten Zier besingt, Narzissus und
Tulipan; wenn er die Lerche und die Nachtigal, den Wein und den
Honig besingt, dann nimmt er sich nicht selbst wahr. Er liest die
Spuren Gottes in seiner Schöpfung. Spiritualität ist die Erfahrung
der Einheit des Lebens. Der Schmerz der Menschen ist nicht mehr nur,
was er ist; die gebildete Aufmerksamkeit liest den Schmerz Gottes im
Schmerz der Menschen. Das Glück ist nicht mehr nur, was es ist. Es
sind die Spuren Gottes, die in ihm deutlich werden.
Elisabeth ist wie Paul Gerhardt, wenn er seinen Preis der Schöpfung
singt, nicht auf Erfahrung aus, aber sie erfahren. Sie sind nicht
erlebnisorientiert, aber sie erleben – die Augen Christi in den
Augen des Kindes; die Spuren Gottes in der Schönheit des Lebens. Es
kann wohl nur der ein spiritueller Mensch werden, der die
lebenserleichternde Kunst gelernt hat, sich zu lassen, sich zu
vergessen und sich selber nicht zu beabsichtigen. Wer also
beabsichtigt, ein spiritueller Mensch zu werden, möglichst sofort,
der wird eher ein Komiker. Er hat sich einen Drahtverhau auf den Weg
gelegt, die Selbstbeabsichtigung. Spiritualität ist eine Lesekunst.
Es ist die Fähigkeit, das zweite Gesicht der Dinge wahrzunehmen: die
Augen Christi in den Augen des Kindes; das Augenzwinkern Gottes im
Glanz der Dinge. Nicht Entrissenheit, sondern Anwesenheit und
Aufmerksamkeit ist ihre Eigenart. Sie ist keine ungestörte
Entweltlichung und Einübung in Leidenschaftslosigkeit. Sie ist
lumpig und erotisch, weil sie auf die Straße geht und sieht, was dem
Leben geschenkt ist und was ihm angetan wird.
Es gibt also einen Vorhof der ausdrücklich religiösen Spiritualität,
es ist die Aufmerksamkeit im alltäglichen Leben. Bin ich fähig,
wahrzunehmen und zu empfinden? Wie lese ich die Schmerzen der
Menschen und wie lasse ich mich von ihnen berühren? Wie gehe ich mit
den Dingen des alltäglichen Lebens? Bin ich fähig, sie als Gaben zu
ehren oder bin ich ausschließlich Benutzer und Verfüger der Welt?
Ehre ich das Wasser, die Stille, die Nacht, die Tiere, die Luft zum
Atmen, oder wähne ich alles für mich und meinem Nutzen zur
Verfügung?
Gesetze der Bildung der Aufmerksamkeit
Spiritualität ist gebildete Aufmerksamkeit. Der Mensch besteht nicht
nur aus seiner eigenen Innerlichkeit und aus seinen guten Absichten.
Der Mensch ist nicht nur Seele und Geist, er ist alltäglicher Leib.
Er hat nicht einen Leib, er ist Leib. Die Innerlichkeit, die nur
sich selber kennt, wird bald ermatten. Wie macht man sich deutlich
und langfristig in seinen Absichten? Wie betreibt man das Handwerk
der Spiritualität? Ja, Spiritualität ist Handwerk, sie besteht nicht
aus der Genialität von religiösen Sonderbegabungen. Man kann das
Handwerk lernen, wie man kochen und nähen lernen kann. Aber jedes
Handwerk kennt Regeln und man hat nur Erfolg, wenn man sich an die
Regeln hält. Ich möchte einige dieser Regeln nennen am Herzstück
aller Spiritualität, am Gebet. Regeln und Methoden reinigen uns von
der Zufälligkeit des Augenblicks und machen uns langfristig. So
möchte ich einige bescheidene Regeln nennen, die uns zur religiösen
Aufmerksamkeit verhelfen können. Ich erkläre die Regeln am Gebet,
weil es das Herzstück jeder Spiritualität ist.
1. Entschließe dich zu einem bescheidenen Vorhaben auf dem Weg zum
Gebet! Es gibt das Problem der Selbstentmutigung durch zu große
Vorhaben. Ein solcher bescheidener Schritt könnte sein, am Morgen
oder am Abend einen Psalm in Ruhe zu beten; sich einige Minuten für
eine Lesung freizuhalten; den Losungen einige Minuten seine
Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn dies nicht möglich ist, liegt es
nicht an der Hektik und der Überlast unseres Berufes, sondern daran,
dass wir falsch leben.
2. Gib deinem Vorhaben eine feste Zeit! Bete nicht nur, wenn es dir
danach zumute ist, sondern wenn es Zeit dazu ist. Regelmäßig
beachtete Zeiten sind Rhythmen, Rhythmen sind gegliederte Zeiten.
Erst gegliederte Zeiten sind erträgliche Zeiten. Lineare und nicht
gegliederte Zeiten sind öde und schwer erträglich.
3. Gib deinem Vorhaben einen festen Ort! Orte sprechen und bauen an
unserer Innerlichkeit.
4. Sei streng mit dir selber! Mache deine Gestimmtheit und deine
augenblicklichen Bedürfnisse nicht zum Maßstab deines Handelns!
Stimmungen und Augenblicksbedürfnisse sind zwielichtig. Die
Beachtung von Zeiten, Orten und Methoden reinigt das Herz.
5. Rechne nicht damit, dass dein Vorhaben ein Seelenbad ist! Es ist
Arbeit – labor!, manchmal schön und erfüllend, oft langweilig und
trocken. Das Gefühl innerer Erfülltheit rechtfertigt die Sache
nicht, das Gefühl innerer Leere verurteilt sie nicht. Meditieren,
Beten, Lesen sind Bildungsvorgänge. Bildung ist ein langfristiges
Unternehmen.
6. Sei nicht auf Erfüllung aus, sei vielmehr dankbar für geglückte
Halbheit! Es gibt Ganzheitszwänge, die unsere Handlungen lähmen und
uns entmutigen.
7. Beten und Meditieren sind kein Nachdenken. Es sind Stellen hoher
Passivität. Man sieht die Bilder eines Psalms oder eines Bibelverses
und lässt sie behutsam bei sich verweilen. Meditieren und Beten
heißt frei werden vom Jagen, Beabsichtigen und Fassen. Man will
nichts außer kommen lassen, was kommen will. Man ist Gastgeber der
Bilder. Setze den Texten und Bildern nichts entgegen! Überliefere
dich ihrer Kraft und lass dich von ihnen ziehen! Sich nicht wehren
und nicht besitzen wollen, ist die hohe Kunst eines meditativen
Verhaltens.
8. Fang bei deinem Versuch nicht irgendwie an, sondern baue dir eine
kleine, sich wiederholende Liturgie. Beginne z.B. mit einer Formel
(„Herr, öffne meine Lippen!“), mit einer Geste (der Bekreuzigung der
Lippen), lass einen oder mehrere Psalmen folgen! Lies einen
Bibelabschnitt! Halte eine Stille Zeit ein! Schließe mit dem
Vaterunser oder einer Schlussformel. Psalmen und Lesungen sollen vor
deiner Meditation feststehen. Fange also nicht an zu suchen während
deiner Übung!
9. Lerne Formeln und kurze Sätze aus dem Gebets- und Bildschatz der
Tradition auswendig! (Psalmverse, Bibelverse ...). Wiederholte
Formeln wiegen dich in den Geist der Bilder. Sie Verhelfen uns zur
Passivität. Sie sind außerdem die Notsprache, wenn einem das Leben
die Sprache verschlägt. Sie sind wie ein Balken, an den man sich
nach einem Schiffbruch klammert. Wir verantworten ihren Inhalt
nicht, denn wir sprechen sie mit der Zunge der Toten und lebenden
Geschwister.
10. Wenn du zu Zeiten nicht beten kannst, lass es! Aber halte den
Platz frei für das Gebet, d.h. tue nicht irgend etwas anderes,
sondern verhalte dich auf andere Weise still! Lies, setze dich
einfach ruhig hin! Verlerne deinen Ort und deine Zeit nicht!
11. Sei nicht gewaltsam mit dir selbst! Zwinge dich nicht zur
Gesammeltheit! Wie fast alle Unternehmungen ist auch dieses kleine
brüchig, es soll uns der Humor über dem Misslingen nicht verloren
gehen. Auch das Misslingen ist unsere Schwester und nicht unser
Todfeind.
12. Birg deinen Versuch in den Satz von Römer 8: "Der Geist hilft
unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, wie wir beten
sollen, wie sich’s gebührt. Sondern der Geist tritt für uns ein mit
unaussprechlichem Seufzen." Wir bezeugen uns nicht selber. Der Geist
gibt Zeugnis unserem Geist. Wir sind besetzt von einer Stimme, die
mehr Sprache hat als wir selber.
Ist das alles, mögen Sie fragen? Warum braucht man das große Wort
Spiritualität für so bescheidene Sache? Haben das nicht auch unsere
Väter und Mütter gewusst, wenn sie am Morgen und Abend gebetet
haben, wenn sie die Losungen gelesen haben, wenn sie sonntags in den
Gottesdienst gingen, wenn sie ihre Kinder tauften und ihre Toten
beerdigten? Ja, sie haben es gewusst. Aber uns ist vieles von ihrem
Wissen verloren gegangen, und wir müssen das einfache Alphabet der
Frömmigkeit mühsam lernen. Es ist tröstlich zu wissen, dass wir
nicht alles neu erfinden müssen. Es ist auch schön zu wissen, dass
das eigene Haus Schätze der Weisheit birgt und dass wir nicht völlig
angewiesen sind auf die Spiritualitätskonzeptionen aus anderen
religiösen Gegenden. Es ist schön, wenn man über den eigenen
Tellerrand schauen kann und die Schätze der anderen nicht verachten
und sich selber als einzigartig erklären muss. Komisch aber wirkt
man, wenn man nur in den Vorgärten der Fremden grast und der eigenen
Tradition nichts zutraut. Wenn man weiß, was die eigenen Schätze
sind, dann kann man sich in Freiheit und Gelassenheit den fremden
zuwenden.
(Fulbert Steffensky, "Die große Sehnsucht" in:
Schwarzbrot Spiritualität, Radius, 2005, S.17-23,
Vortrag gehalten am 26.5.2005 auf dem
Kirchentag in Hannover,
Quelle:
wdr5)
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Meditativer Wochenschluss in der
Hospitalkirche (Klicken Sie auf das Bild)
Studienkreis Meister Eckhart
(Klicken Sie auf das Bild)
Die Tageslosung für den PC
"Nicht
um unseren Geist geht es in evangelischer Spiritualität, sondern um
den Geist Gottes."
(Wolfgang Huber)
"Das
christliche Leben
ist nicht Frommsein,
sondern Frommwerden,
nicht Gesundsein,
sondern Gesundwerden,
nicht Ruhe, sondern Übung.
Wir sind's noch nicht,
wir werden's aber.
Es ist noch nicht getan
und geschehen,
es ist aber im Gang
und Schwang.
Es ist nicht das Ende,
es ist aber der Weg.
Es glüht und glänzt
noch nicht alles,
es bessert sich aber alles."
(Martin Luther)
"Es
gibt Begriffe, die einem Stern gleichen, der am Horizont aufgeht und
heller und heller zu leuchten beginnt. »Spiritualität« scheint mir
gegenwärtig so ein Begriff zu sein. Je dunkler eine funktional
verwaltete und zielorientiert verplante Welt wird, desto heller
leuchtet das Hoffnungswort »Spiritualität«. Es weckt Sehnsucht nach
einer Welt, die sich funktional nicht in den Griff kriegen lässt,
weil sie zwecklos ist und gerade deshalb das Leben lebenswert macht.
Es gibt freilich auch Begriffe, die einem Stern gleichen, dessen
Licht mehr und mehr verblasst und seinen Glanz verliert.
»Frömmigkeit« scheint mir gegenwärtig so ein Begriff zu sein, der
einmal Glanz hatte, als er soziale Tugend, Sinn für Gerechtigkeit
und Ehrfurcht vor Gott in sich vereinigte. Da konnte sogar von Gott
gesungen werden: »O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell guter
Gaben«. Ein »frommer« Gott schenkt einen gesunden Leib, eine
unverletzte Seele und ein reines Gewissen (vgl. EG 495). Aber dann
verblasste dieses Wort, seit es pietistisch verinnerlicht wurde
»Lieber Gott, mach’ mich fromm, dass ich in den Himmel komm’!« Und
wenn gar unter Pferdehändlern von einem »frommen Pferd« die Rede
ist, so geht es um einen lahmen Gaul. Es gibt Begriffe, die so
verblasst sind, dass man von ihrem Glanz nur noch ahnen kann. Solche
Begriffe müssen eine Weile ruhen, ehe sie vielleicht in neuem Glanz
erstrahlen."
(Christian Möller, Reformatorische Spiritualität: Begeisterung für
das Alltägliche, Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 6/2004)
"Es
ist ein unverzichtbares Lebenszeichen christlicher Spiritualität,
die Spiritualitäten zu unterscheiden. Sie tut das im Zeichen des im
Kommen befindlichen Gottesreiches: Wo der Geist Jesu Christi
herrscht, dort wird die Kontrolle anderer Geister aufgebrochen; dort
macht religiöse Gesetzlichkeit spiritueller, unbedingter Liebe
Platz. Um nicht weniger als um den wahren Weg zu innerster Befreiung
geht es. Insofern ist »Spiritualität« christlich verstanden viel
eher ein Kampfbegriff denn ein Signalwort für jene narzisstische
Religiosität, die den Menschen süße Göttlichkeit zuspricht und dabei
die Möglichkeit, ja Pflicht evolutiver Selbsterlösung im Zuge
spirituellen Wachstums auferlegt. Kurz: Gerade der allseits so
beliebte Spiritualitätsbegriff fordert zur Unterscheidung heraus,
nämlich auf der Basis der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium -
in theologischer Theorie ebenso wie in pfarramtlicher Praxis."
(Werner Thiede, "Spiritualität" - Wes Geistes Kind?
- Aspekte eines inflationären Begriffs religiöser Gegenwartskultur,
Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 6/1998)
"Vor
Jahren, es mag an die zwanzig Jahre her sein, erzählte Bischof
Lohse, damals Ratsvorsitzender der EKD, einmal folgende Geschichte:
Eine Delegation amerikanischer Kirchenmänner besuchte auch die
Universität Göttingen in ihrer theologischen Fakultät. Voller Stolz
zeigten die Göttinger Theologieprofessoren das neuerrichtete und
neueingerichtete Göttinger theologische Seminar. Die amerikanischen
Gäste waren voller Bewunderung ob des vorzüglich organisierten und
ausgestatteten Seminars. Plötzlich die Frage eines der Gäste an
Bischof Lohse: »And what about the spiritual life of your students?«
Ich stelle mir den Schreck von Bischof Lohse vor. Was sollte der
Arme antworten? An amerikanischen Hochschulen gibt es
selbstverständlich eine Kapelle: Für Gottesdienste, für Andachten,
für einen persönlichen »stillen Augenblick« - aber an deutschen
Universitäten? Wer käme auf den Einfall, einem neuerrichteten und
neueingerichteten theologischen Seminar einen Andachtsraum
anzufügen?
Die kleine Geschichte ist exemplarisch und symptomatisch: Sie zeigt,
daß es nicht gut bestellt ist um die Übung und Pflege und das Leben
des persönlichen Glaubens unter unseren deutschen Theologiestudenten
und Vikaren.
Bei uns Pastoren wird es kaum besser sein! "
(Walter Stock, Wie steht es um die Spiritualität der Pastoren?,
Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 1/2001)
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"Spirituelle
Kompetenz" - Anmerkungen zu einem höchst
missverständlichen Begriff/ Von Pfr. Johannes Taig
Von "spiritueller Kompetenz" ist heute immer wieder bis in die
Kirchenleitung hinein die Rede. Von Lehrpfarrern wird verlangt, sich
im Dienstzeugnis zur "spiritueller Kompetenz" ihrer Lehrvikare
eingehend zu äußern. Pfarrer sollten sie also sowieso haben. In
einem Gemeindebrief las ich in einem Artikel zur
Kirchenvorstandswahl: "Evangelische Kirchengemeinden kommunizieren
das Evangelium unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft. Die
'Kommunikation des Evangeliums' setzt ihrerseits eine 'spirituelle
Kompetenz' bei denen voraus, die sie betreiben." Also sollte sie
eigentlich jeder evangelische Christ haben. Aber was soll das
eigentlich sein: "Spirituelle Kompetenz"?
"Es wird heute häufig übersehen, dass der
Begriff 'Spiritualität',
wie er heutzutage verwendet wird, nicht aus der christlichen
Tradition stammt, sondern gegen Ende des vorigen Jahrhunderts im
englischsprechenden Reformhinduismus bei dem Bemühen entstanden ist,
der westlichen Welt das geistige Erbe des Hinduismus zu vermitteln.
(...) Heute ist der Begriff geradezu inflationär geworden: Er
schillert in bunten Farben - beinahe so bunt wie die Welt der
Religionen! Selbst Pseudo- und Postreligiöses schwingt mit, wenn ihn
Psycho-Kulte, Öko-Freaks und Politiker für ihre Programme in
Beschlag nehmen. Alle sprechen sie von Spiritualität - aber wissen
sie jeweils wirklich, was sie damit meinen - und was andere hören,
wenn sie dem Begriff begegnen?"
(Werner Thiede, "Spiritualität" - Wes
Geistes Kind? - Aspekte eines inflationären Begriffs religiöser
Gegenwartskultur, Deutsches Pfarrerblatt, Nr.
6/1998) Eine Klärung der Begriffe ist angesagt.
"Spirituell" ist ein anderes Wort für
"geistlich". Spiritualität meint im christlichen Kontext nichts
anderes als "geistliches Leben". Zu "Kompetenz" findet man im
Wörterbuch "Sachverstand, Fähigkeit, Vermögen". Der Theologe Fulbert
Steffensky kann schreiben: "Spiritualität
ist Handwerk, sie besteht nicht aus der Genialität von religiösen
Sonderbegabungen. Man kann das Handwerk lernen, wie man kochen und
nähen lernen kann." (Fulbert Steffensky, "Die große Sehnsucht" in:
Schwarzbrot Spiritualität, Radius, 2005, S.20, siehe oben) Er meint
damit das Handwerk der eigenen Glaubenspraxis (praxis pietatis): das
sich Einüben in feste Formen und Rhythmen des Gebets und des Hörens
auf das Wort Gottes. Man muss kein Prophet sein, um zu vermuten,
dass dieses Handwerk, angefangen vom Wochenrhythmus
(Sonntagsgottesdienst) bis zum Tagesrhythmus (feste Gebets- und
Bibellesezeiten) beim durchschnittlichen evangelischen Christen
heute nicht eben in voller Blüte steht. Warum dann das Wort von der
Spiritualität und der "spirituellen Kompetenz"?
Ein zweiter Einwand wiegt schwerer: Auch der, der
das Handwerk der eigenen christlichen Glaubenspraxis (Spiritualität)
beherrscht, weiß, dass das eigene Tun hier nichts anderes als
Vorbereitung sein kann. Es ist das sich Öffnen, Bitten, Hören und
Warten auf ein Handeln Gottes, das der eigenen Kompetenz, dem
eigenen Vermögen, dem eigenen Sachverstand und der eigenen Fähigkeit
ganz entzogen ist. In seiner Auslegung zum dritten Glaubensartikel,
der vom Heiligen Geist (spiritus sanctus) handelt, schreibt Martin
Luther: "Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft
an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann,
sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit
seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten."
Im Augsburger Bekenntnis ist in Artikel 5 vom Heiligen Geist die
Rede, "der den Glauben, wo und wann er will, in denen, die das
Evangelium hören, wirkt." Christliche Spiritualität ist einerseits
Handwerk. Andererseits versteht sich christlicher Glaube ganz als
Geschenk Gottes. Menschliche "Kompetenz" in Sachen Spiritualität hat
also dort ihre klare Grenze, wo das Vermögen und Handeln Gottes ins
Spiel kommt. Hier hat unser menschliches Handeln und Reden ganz Gott
die Ehre zu geben. "Nicht um unseren Geist geht es in evangelischer
Spiritualität, sondern um den Geist Gottes." (Wolfgang Huber)
Es ist mehr als eine Vermutung,
dass der Begriff der "spirituellen Kompetenz" diesen Sachverhalt -
vielleicht sogar bewusst - unterschlägt und verschleiert und zu
Missverständnissen in der Frage, was es mit dem christlichen Glauben
auf sich hat, an einer ganz entscheidenden Stelle, geradezu einlädt.
Es ist in einer Kirche, die sich auf dem Feld der Moderne behaupten
zu müssen meint, inzwischen Methode, durch wohlfeile Schlagworte,
die auch anderswo angesagt sind, auch noch die letzten Interessierten
einzusammeln. Dass das eigene Profil dabei oft bis zur
Unkenntlichkeit abgeschliffen wird oder ganz auf der Strecke bleibt
- was soll's, wenn die Teilnehmerzahlen stimmen.
Dazu passt die Beobachtung, dass es bei vielen
"spirituellen" Gemeindeveranstaltungen eben nicht um die mühevolle
Arbeit der Einübung in eine eigene Glaubenspraxis und um die
Anstrengung des Verstehens von Texten der Bibel geht, sondern um ein
möglichst freies Angebot, das sich nach Möglichkeit den Besuchern
(jeden Alters, jeden Glaubens) ganz selbstverständlich erschließen
soll. Viel Mühe meint man heute dem aufgeklärten religiös
Interessierten nicht mehr zumuten zu dürfen. Hinterher ist man
meistens nicht schlauer: Man weiß weder, was daran wirklich
"spirituell" war, noch weiß man, worin denn die Kompetenz des
Veranstalters in Sachen Spiritualität eigentlich lag.
Die Kirche, die (zurecht) als kompetent in
Glaubensfragen wahrgenommen werden will, erweist sich damit einen
Bärendienst. "Einbildung ist auch eine Bildung", sagt der Volksmund
spöttisch. In der Postmoderne darf sich bekanntlich jeder einbilden,
was er will und das sogar auf das Firmenschild schreiben. Und es
heißt dann auch nicht mehr "Einbildung", sondern "Selbstkompetenz".
Man gebe nur einmal bei Google diesen Begriff ein und staune über
das (Ausbildungs-) Angebot. In dieser Gesellschaft hat die Kirche aus
guten Gründen nichts verloren. Sie sollte deshalb ihre Rede von der
eigenen Spiritualität und der eigenen "spirituellen Kompetenz" auf
die Goldwaage legen. Um Gottes Willen!
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Ein
Beispiel aus dem Internet:
"Vom ICH zum DU zu GOTT (personale, soziale
und spirituelle Kompetenz)
Die Orientierungstage werden von unseren Schülerinnen und Schülern
sehr gerne genützt. Im Rahmen des Religionsunterrichtes fahren die
Schülerinnen und Schüler seit vielen Jahren nach...
Dabei erleben die Schülerinnen Spaß, Spiel und Gemeinschaft.
Orientierungstage sind Veranstaltungen im Rahmen der “religiösen
Übungen“.
Auch der Elternverein unterstützt diese Veranstaltungen finanziell.
Die Entfaltung der Persönlichkeit, Suche nach Identität, Zweifel und
Ängste in einem vertrauensvollem Rahmen ansprechen, aus den
Kraftquellen schöpfen und Lebensmut tanken sind weitere Anliegen
dieser abwechslungsreichen Tage." ..
"Dieses
neue alte Christentum der Intellektuellen ist eine
Wellness-Religion, die von der Aufklärung das Anrecht auf
Glücksmaximierung geerbt hat und dieses Glück über die irdischen
Grenzen hinaus ausdehnen möchte, die ihm die Aufklärung zog. Die
Kirchen ihrerseits kommen mit Rockkonzerten, Kulturprogrammen und
langen Kirchennächten den vage ansakralisierten Gefühlskonsumenten
entgegen, die gern die bunte Vielfalt ihrer Erlebniswelt steigern
möchten, ohne daraus Konsequenzen für ihre praktische Lebensführung
zu ziehen. Wer dieser kommoden Religion anhängt, gewinnt hinzu, ohne
etwas aufzugeben, weder vor- noch außereheliche Verhältnisse, weder
Hurerei noch Sodomiterei (wie die altdeutschen Christen solche
Todsünden genannt hatten). Erwünscht ist eine Religion, die nicht
mit Verboten, sondern mit Gratifikationen aufwartet.
Jeder bastelt sich, häufig unter Zuhilfenahme esoterischer und
fernöstlicher Elemente - auch die Religion unterliegt der
Globalisierung - eine Gelegenheitsreligion zusammen, die gerade
seine Gewohnheiten respektiert und seine Nöte beschwichtigt. Wie in
der astrologischen Welle, die der religiösen voranging, verlangt der
Einzelne Bedeutungen, die speziell auf ihn, den Einzelnen,
zugeschnitten sind, also ein individuelles religiöses Design. Darin
bleiben die aufklärerischen Prinzipien der individuellen Freiheit
und des gegenseitigen Tolerierens in Kraft. Kaum einer wäre bereit,
die theologische Jurisdiktion einer Kirche über seinen Lebenswandel
anzuerkennen, kaum einer wäre bereit, auch nur die Pflichten des
regelmäßigen Kirchenbesuchs, der Beichte und Buße auf sich zu
nehmen. Akzeptabel ist für diese religiösen Schwärmer lediglich ein
Christentum in der aufgeklärten, das heißt durch die Aufklärung
modernisierten, also harmlosen Gestalt. Wo, zum Teufel, ist der
Teufel hingekommen?"
(Ferien
von der Aufklärung/Von Heinz Schlaffer,
DIE WELT, vom 18.02.06)
"Was
hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch
Schaden an seiner Seele?" (Matthäus 16,26).
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